Veritas
können.»
In der von unzähligen Kerzen erleuchteten Ritterstube bezogen Hartschiren und Trabanten Wache vor dem Katafalk. Dieser stand auf einem dreistufigen Podest und war mit Stuckwerk in brüniertem Gold geschmückt, darüber prangte ein Baldachin aus schwarzem Samt mit Seidenfransen.
Ihre Kaiserliche Majestät bot einen makellosen Anblick. Der Leichnam lag genau dort, wo Joseph viele Male Besucher und Ehren empfangen hatte, wo er in seinem kurzen Leben zahlreichen Versammlungen und Zeremonien vorgesessen hatte. Gewand und Umhang waren aus schwarzer Seide mit gleichfarbiger Spitze; auf dem Haupt die rotblonde Perücke und ein schwarzer Hut; der Degen an der Seite und ein kleines Wappen mit dem Goldenen Vlies um den Hals. Der Sarg, in dem er lag, war mit karmesinfarbenem Samt ausgeschlagen und ebenfalls mit schwarzem Goldstuck verziert; der Kopf ruhte auf zwei Kissen. Der Einbalsamierer hatte gute Arbeit geleistet. Mich überraschte das Fehlen der Blatterngeschwüre auf dem Gesicht – Folge der Mumifizierung oder Zeichen eines gewaltsamen Todes?
Vor dem Kaiser hing ein großes Kruzifix aus Silber, daneben stand das Weihwasserbecken. Rechts waren die Kaiserlichen Insignien aufgestellt: die Krone, der Reichsapfel, das Szepter und das Goldene Vlies auf einem vergoldeten Kissen; zur Linken die Kronen der Reiche Ungarn und Böhmen. Nah dabei standen, mit schwarzem Taffet bedeckt, ein silberner Kessel und ein Becher. Den Gebräuchen des Hauses Habsburg gemäß enthielt einer Herz und Zunge Josephs, der andere Hirn, Augen und Eingeweide. Auf zwei schwarz überzogenen Betstühlen saßen der Hof-Cappellan und vier Patres der Barfüßigen Augustiner, welche das Toten-Offizium murmelten.
Und dann sah ich sie von weitem alle wieder: den Kastraten Gaetano Orsini (er zeigte noch Spuren blauer Flecke), die Landina, Sopranistin und Gattin des Theorbenspielers Francesco Conti, und die anderen. Ich machte mich nicht bemerkbar – wie hätte ich sie grüßen können, stimmlos, wie ich war? Ich beobachtete sie: die Gesichter waren eingefallen, abwesend die Blicke. Sie hatten sich vom Heiligen Alexius verabschieden müssen; die Aufführung des Oratoriums zu Ehren des Nuntius war abgesagt worden. Was würde aus ihnen werden, nun, da der geliebte Joseph tot war, nun, da ihr junger Wohltäter nicht mehr lebte?
Würde sein Bruder Karl, wenn er aus Barcelona kam, um sich auf den langersehnten Kaiserthron zu setzen, sie behalten oder allesamt entlassen?
Vinzenz Rossi kam uns entgegen, er tauschte mit Camilla Gesten des Trostes, und während die Chormeisterin sich anschickte, die Sänger zu dirigieren, wies er uns Plätze in einem Winkel an, wo wir uns bis zum Ende der Darbietung würden aufhalten können. Ich kannte Psalm 51 und wiederholte die Worte im Geiste:
Entsündige mich mit Ysop , dann werde ich rein .
Wasche mich , dann werde ich weißer als Schnee .
Sättige mich mit Entzücken und Freude !
Jubeln sollen die Glieder , die du zerschlagen hast .
So geschah es, dass die allgemeine Trauer eins wurde mit der Leere, die in mir herrschte. Das Leid jedes kaiserlichen Untertanen war in mir, durchquerte meinen Körper, und ich wurde zu einem Funken aus Schmerz, den der Wind dieses flehenden Gesangs mit sich trug. Meine Gedanken jedoch wurden nicht milde gestimmt. Während um mich herum unterdrücktes Weinen die Luft erzittern ließ, blieb ich kalt und abweisend. Der Gleichmut des Kummers fokussierte jedes Ereignis, das ich gleich einem geschickten Chirurgus mit dem Messer scharfen Nachdenkens sezierte.
Neben Atto, der auf einem unbequemen Samtstuhl saß, grübelte ich erneut und maß die Gegenwart an der Elle der Vergangenheit.
Zur Zeit unserer ersten Begegnung im September 1683 war Abbé Melani nach Rom gekommen, um die geheime Mission zu erfüllen, die der König von Frankreich ihm aufgetragen hatte. Danach hatte er freilich selbst Erkundigungen einziehen müssen, weil er herausgefunden hatte, dass niemand ihm die wahre Natur seines Auftrags erklärt hatte.
Als wir uns im Juli 1700 wiederfanden, war Atto eben in Rom eingetroffen und unerklärlicherweise mit einem Messer am Arm verletzt worden. Er hatte eine Reihe von Nachforschungen anstellen müssen, um herauszufinden, wer ihn bedrohte. Doch in Wahrheit hatte er auch damals eine geheime Mission für seinen König zu erfüllen und wusste von Anfang an genau, welche Schritte er tun musste: ein Testament fälschen, sich der Hilfe seiner intriganten Freundin Maria Mancini
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