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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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nicht: Er wollte ein paar Schritte durch das Zimmer machen, auf mich und Domenico gestützt. Doch kaum versuchte er, sich zu bewegen, rief er aus: «O weh, ich kann nicht mehr», sodass wir ihn eilends wieder hinsetzen mussten. Er wurde ohnmächtig, also legten wir ihn sofort ins Bett. Auf unsere Rufe lief Cloridia herbei, die ihn mit Aqua Regia Hungaria wusch, das Gondi, der Sekretär des Großherzogs, fürsorglich jedes Jahr schickte, und bald kam er wieder zu sich. Doch eine Viertelstunde später befiel ihn das Übel erneut.
    «Verlasst mich nicht», hat er gesagt, dann hat er das Bewusstsein verloren, und so, ohne ein Wort und regungslos, ist er fast vier Tage geblieben, zum großen Erstaunen der Medizi, die eine solche Widerstandskraft des Herzens bei einem über Achtzigjährigen nie zuvor gesehen hatten. Gestern, am 4. Januar, zwei Stunden nach Mitternacht, hat er die Augen geöffnet und mich angesehen. Ich saß an seinem Kopfende, ich hatte ihn nie allein gelassen, so wie er es bei mir vor drei Jahren gehalten hatte. Ich habe seine kalten, knochigen Hände in meine genommen. Er hat gemurmelt: «Bleib bei mir.» Dann, nach einem langen, müden Seufzer, ist er verschieden.

    Während ich mit den anderen Besuchern durch die Kirche der Barfüßigen Augustiner ging, meinte ich, Atto noch immer an meiner Seite zu haben; wie an jenem eiskalten 20. April vor drei Jahren in einer anderen Kirche, ebenfalls – Ironie der Geschichte – ein Gotteshaus der Barfüßigen Augustiner. Es waren die Exequien Ihrer Kaiserlichen Majestät Joseph des Sieghaften. Aus keinem Grund der Welt hätte ich fehlen wollen: Es war das einzige Begräbnis, an dem ich je teilgenommen hatte. Nun kann ich dem Sarg des Abbé Melani nicht folgen, ohne dass mich der eisige Wind der Erinnerung peitscht.

    In der Ritterstube wurde der Kaiser, nachdem er den Segen des Bischofs von Wien empfangen hatte, in einen anderen, mit schwarzem und goldenem Sammet ausgeschlagenen Sarg umgebettet, welcher dann mit vergoldeten Nägeln für immer versiegelt ward. Überall zierte Gold die Bahre: an den Schlössern, den Tragegriffen, den Schlüsseln und Initialen I. I., das heißt Joseph I., die in ihrer Mitte eingraviert waren. Die Barfüßigen Karmeliterinnen von St. Joseph bedeckten den Sarg mit dem Bahrtuch, das sie für kaiserliche Funeralien immer bereithielten. Dann legten sie die Kronen Böhmens und Ungarns an das Fußende, an das Kopfende die Kaiserlichen Insignien mit dem Goldenen Vlies und in die Mitte, von der Fahne mit dem Kaiserlichen Adler umhüllt, Dolch und Degen. Die Urne mit dem Herzen und der Zunge des Verstorbenen wurden in der vollkommenen Stille, welche die Zeremonie gebot, zur Loreto-Kapelle, der Kirche der Barfüßigen Augustiner, gebracht und dort zwischen die anderen acht Urnen mit den Herzen seiner Vorfahren gestellt. Josephs unmittelbarer Vorgänger war jener junge Ferdinand IV, der die Tradition der Verehrung der Madonna von Loreto eingeführt hatte. Sodann wurde der Schrein, welcher das Hirn, die Augen und die Eingeweide enthielt, mit einem Sechsspänner und einem Geleit aus Kerzenträgern in die Kathedrale St. Stephan überführt und dort in die Erzherzogliche Krypta gestellt. Still empfingen ihn dort weitere zweiundzwanzig Ansammlungen grauer Materie und Eingeweide, jene der früheren österreichischen Habsburger.
    Während der Zeremonie brach die Nacht herein, und mit ihr war der gefürchtete Abschied gekommen. Man kehrte in die Ritterstube zurück, wo inzwischen die Königinmutter und die anderen Mitglieder der Kaiserlichen Familie eingetroffen waren, außer der Witwe des Kaisers, die wegen ihres übergroßen Schmerzes mit der jüngsten Tochter in der Residenz bleiben wollte. Gefolgt vom ganzen Hof und dem Päpstlichen Nuntius, wurde der Sarg durch den niedrigen Korridor der Residenz bis in die Kirche der Barfüßigen Augustiner getragen und dort auf eine schwarze Sänfte gestellt. Um diese herum vollzog sich zwischen acht und neun Uhr das traurige Bestattungsritual. Auf die Augustiner folgten dann die Kapuziner, welchen die Bestattung oblag.
    Und nun war der Moment des Volkes gekommen. Von überall her strömten die treuen Untertanen in die Kapuzinerkirche, als um neun Uhr, angekündigt vom mächtigen Geläut aller Kirchen des Erzherzogtums Österreich und erleuchtet von tausend und abertausend Lichtern, die, schützend in gläsernen Laternen bewahrt, überall auf die Türme gesteckt waren, dass sie die trostlose Finsternis

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