Veritas
fürderhin tun. Es hat nichts genützt, der Königinmutter den gefälschten Brief Eugens auszuhändigen.
Über der Kaiserlichen Residenz ballen sich jedoch schon dunkle Wolken zusammen. Wie der Derwisch prophezeit hatte, wird das Haus Habsburg bald am Ende sein und Deutschland seinen König haben. Karl VI. hat keine Söhne, nur zwei Töchter. Und Erbe des Kaiserthrons kann nur ein männlicher Nachkomme sein. Karls erstgeborenes Kind war sogar ein Junge, er wurde 1716, vor vier Jahren, geboren, starb jedoch nach wenigen Monaten, geradeso wie Josephs kleiner Sohn. Welch ein Zufall.
Die Erben Karls VI. müssten von Rechts wegen Josephs Töchter sein. Doch das gefällt Karl natürlich nicht. Also hat er 1713, obwohl er nach fünf Ehejahren immer noch ohne Nachkommen war, die Sanctio Pragmatica erlassen: Nach seinem Tod sollen seine Kinder den Thron besteigen, nicht diejenigen Josephs. So wird ihn sein ältestes Töchterchen Maria Theresia beerben, die vor drei Jahren geboren wurde. Ein willkürlicher Akt in jeder Hinsicht. Tatsächlich sind die anderen Länder Europas nicht einverstanden, also fleht Karl seit Jahren schon ein Land nach dem anderen an und beschwört sie, die Pragmatische Sanktion anzuerkennen. Als Gegenleistung verspricht er ihnen goldene Berge, sogar die Überlassung von Hoheitsgebieten. Alles, damit nur ja keine Tochter des verhassten Bruders auf dem Kaiserthron sitzt.
Doch die Ranküne Karls schwächt das Reich. Die deutschen Landesfürsten scharren schon mit den Hufen. Es naht der Moment, da Deutschland sich (wie Palatino angekündigt hatte) vom Reich lösen und seinen Herrscher nicht mehr im katholischen Wien haben wird.
Kurz, wie Atto befürchtete, hat dieser Krieg das Ende der Welt bedeutet, aber er hat sie nicht durch eine neue ersetzt, nein, stattdessen hat die Agonie der Menschheit begonnen. Eine Oligarchie entscheidet jetzt am grünen Tisch über die Geschicke von Ländern, die Tausende Meilen weit entfernt sind: Von Utrecht aus hat man die Kolonien der Neuen Welt und die italienischen Länder verschachert. Politische Allianzen sind nicht mehr der Schwerpunkt der internationalen Diplomatie, sondern nur mehr Scheinoperationen, denn sie werden von den Geldgebern der Königshäuser entschieden. Und wer sich, wie der Allerchristlichste König oder Joseph der Sieghafte, nicht lenken lässt, wird mitsamt seinen Nachkommen außer Gefecht gesetzt. Dynastische Vorrechte oder militärische Eroberungen gelten nichts mehr, nur das Geld zählt, oder vielmehr das Finanzwesen: Hat man nicht just während des Erbfolgekrieges begonnen, Münzen durch Papier zu ersetzen?
Von Freunden, die Cloridia und ich noch in Paris haben, habe ich erfahren, dass das Leben dort noch härter geworden ist, ärger sogar als in Rom, und damit ist alles gesagt.
1715, vor fünf Jahren, ist der Sonnenkönig gestorben, an Gangräne, genau wie Palatino vorausgesagt hatte. Und er hat fast keine Erben hinterlassen: Zwischen 1711 und 1712 sind ihm alle ehelichen Kinder und Enkel gestorben (auch das hatte der Derwisch prophezeit). Es bleibt nur ein Enkelkind von zwei Jahren, Louis, den seine Ammen retteten, indem sie sich mit ihm in einem Flügel des Palasts einschlossen und den Medizi nicht nur verboten, ihn zu berühren, sondern auch, ihn nur zu sehen. Sie sind überzeugt, dass die anderen Mitglieder der Königlichen Familie nicht an ihren Krankheiten, sondern an der Behandlung starben …
Atto Melani hatte es mir in Wien richtig vorausgesagt: «Mit einem König wie dem Grand Dauphin würde Frankreich dem Kreislauf aus Arroganz und Zerstörung endlich entrinnen; doch England und Holland wollen, dass genau das Gegenteil geschieht. Das Land soll immer mehr degenerieren, der Hof muss dem Volk verhasst sein. Es ist ihnen ärgerlich, dass der Allerchristlichste König erwachsene Söhne und Enkel hat; ideal wäre es, wenn es keinen Erben gäbe, oder nur einen Säugling, was gleichbedeutend wäre.»
Vorbei sind die Zeiten, in denen der Allerchristlichste König im Alter von nur vier Jahren auf den Thron steigen konnte. Damals sorgten die Königinmutter Anna von Österreich und der Premierminister Kardinal Mazarin dafür, das Land vor der Einmischung anderer Mächte zu schützen. Jetzt gibt es weder eine Königin noch einen Premierminister.
«Ludwig XIV. hat alle Macht in seinen Händen konzentriert. Stirbt er, würde eine stellvertretende Regentschaft das Land dem erstbesten Intriganten ausliefern, vielleicht sogar jemandem, der aus
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