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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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immer noch die des Cincinnatus.

    Ich habe endlich eine Antwort auf meine Frage gefunden. Den Schrei habe ich nicht mehr gehört, den Gesang der Folia auch nicht. Ich lebe weiter in ehrfürchtigem Schweigen. Doch ich höre all die Gespenster miteinander tuscheln, die mir im Ort Ohne Namen erschienen sind. Sie haben einen Kreis um mich gebildet. Ich sehe Landschaften und Gesichter, die mir nicht unbekannt sind: Das französische Schloss Vaux-le-Vicomte wechselt sich mit der römischen Villa des Schiffs und mit dem Neugebäu ab und der Oberintendant Fouquet mit Maximilian II. und Joseph I. Und wieder kommen mir zwei Daten in den Sinn, die mir oft, zu oft begegnet sind: der 5. und der 11. September.
    Der 5. September war der Geburtstag des Allerchristlichsten Königs, doch auch der Tag, an dem er den Oberintendanten Fouquet arretieren ließ; es war der Tag, an dem Süleyman starb und an dem zehn Jahre später Maximilians Todeskampf begann. Über ein Jahrhundert danach wäre das belagerte Wien an ebendiesem Tag wegen eines armenischen Verräters fast den Ungläubigen in die Hände gefallen. Meine Frau Cloridia, die sich gelegentlich zu ihrem Vergnügen mit der okkulten Wissenschaft der Zahlen beschäftigt, hat mich informiert, dass die Summe der Ziffern von Ludwigs Geburtsdatum fünf ergibt und ebenso jene des Todestages von Süleyman, während das Datum der Verhaftung Fouquets zehn, also zweimal fünf ergibt.
    Am 11. September 1683 rückten die christlichen Truppen an, um Wien in der Schlacht zu befreien, die sich im Morgengrauen des folgenden Tages ereignete. Und just an diesem 11. September 1683 hatte ich Abbé Atto Melani kennengelernt. Im Jahre 1697 schlug Prinz Eugen an diesem Tag die Türken in der berühmten Schlacht bei Zenta und 1709, wieder am 11. September, die Franzosen bei Malplaquet. Am 11. September 1702 eroberte Joseph zum ersten Male Landau. Am selben Tag des Jahres 1714 fielen Barcelona und Katalonien, nachdem sie von Karl verlassen wurden, durch ein Blutbad in die Hände Philipps V.

    Erst jetzt habe ich es begriffen: Ich bin dorthin zurückgekehrt, von wo ich ausging. Du hast empfangen, mehr wirst du nicht bekommen, höre ich die Stimmen flüstern. Jetzt musst du geben. Du hast gelernt, jetzt musst du lehren. Du hast gelebt, jetzt musst du Leben geben.

    Vom Tag unserer Ankunft in Wien im Jahre 1711 an hat sich die Vergangenheit mir immer mehr preisgegeben. Zunächst waren es flüchtige Hinweise, wie die Worte Camillas, durch welche Cloridias Mutter wieder auftauchte. Als ich mich dann zum ersten Mal an den Ort Ohne Namen begab, haben sich Vergangenheit und Gegenwart immer mehr ineinander verflochten: Vom Fliegenden Schiff bis zum Tod Ugonios, dem ich vor achtundzwanzig Jahren zum ersten Mal begegnete, bis hin zu den Nachrichten im Corriere Ordinario und dem Wiennerischen Diarium sprach mir alles in der einen oder anderen Weise von der Vergangenheit.
    Das Leben hat mir seine Lehre erteilt, indem es alte Melodien aus fernen Tagen für mich wiederholte. Es wird Zeit, das zurückzugeben, was ich als Geschenk erhielt. Vom Zuschauer, der ich war, muss ich zum Akteur für neue Zuschauer werden; vom Schüler zum Lehrenden für andere Schüler; aus dem Krug, der ich war, eine Quelle machen, die sich in andere Krüge ergießt. Wie im Gleichnis von den Talenten bin ich aufgerufen, die Münzen, die mein Herr mir anvertraut hat, nicht in der Erde zu vergraben, sondern sie einzusetzen, um sie zu vermehren. Aber wie? Die Antwort habe ich schon erhalten: mit der Vergangenheit. Mit dem, was Abbé Melani mir in den drei Jahren erzählt hat, die ich bei ihm in Paris verbrachte. Attos Leben wird mein Leben werden, seine Erinnerungen zu meinen. Die Kunst wird meine Zuflucht und meine Werkstatt werden.

    So ist das, was vor dreißig Jahren nicht mehr als der Zeitvertreib eines jungen Hausburschen war und siebzehn Jahre später zur einmaligen Auftragsarbeit für Atto wurde, nun zu einer Lebensentscheidung geworden.
    Ich schreibe über das vergangene Jahrhundert, das Letzte Jahrhundert der Menschheit. In meinen Büchern verschmelze ich das, was mir gemeinsam mit dem Abbé widerfuhr, und das, was ich durch seine Erzählungen erlebte.
    Es ist langwierig, so viel Vergangenheit aufs Papier zu bringen! Manchmal frage ich mich: «Schaffe ich es noch rechtzeitig? Bin ich imstande, es zu tun?» Ich streiche über die Münze von Landau, die Cloridia nie mehr in die Truhe des Prinzen Eugen zurückgelegt hat, und fürchte, dass ich

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