Veritas
hatten die beiden am folgenden Abend gemeinsam den fünf letzten bedeutenden Fastenpredigten beigewohnt (zu denen bis vor wenigen Jahren jene des berühmtesten Hofpredigers gehörten, des verstorbenen Abraham a Sancta Clara), und am Ausgang waren sie mit einem dreifachen Musketenschuss salutiert worden. Die Sache hatte Aufsehen erregt: Nie zuvor hatte Seine Majestät das Osterfest mit dem Nuntius verbracht.
Um nun die glückliche Wiederaufnahme der Beziehungen zum Heiligen Stuhl und das Ende des Streites um Comacchio zu besiegeln, war beschlossen worden, unmittelbar nach Ostern ein Oratorium aufführen zu lassen, nach römischem Brauch, mit Bühnenbild, Kostümen und szenischer Handlung, wie bei den Passionsspielen, was einen Bruch mit der Tradition des Kaiserhofes bedeutete, der Oratorien nur in der Fastenzeit und ohne jede szenische Darbietung gestattete.
Camilla war folglich mit der Aufgabe betraut worden, ein italienisches Oratorium aufzuführen, dem Joseph und der Nuntius Davia, der Vertreter Seiner Heiligkeit, in symbolischer Eintracht nebeneinandersitzend beiwohnen würden.
Obwohl keiner der Hofbeamten ihr einen deutlichen Hinweis darauf gegeben hatte, wusste Camilla recht wohl, dass ihre Arbeit weit eher politischen als musikalischen Zwecken diente. Der Heilige Alexius , der im Jahre 1710 bei so vielen Adeligen und feinsinnigen Personen Furore gemacht hatte, sollte in diesem Jahr in der ehrwürdigen Hofkapelle Ihrer Kaiserlichen Majestät eigens für den Nuntius wiederholt werden. Aller Augen waren auf sie gerichtet, und die Chormeisterin hatte sich eifrig an die Arbeit gemacht, indem sie in aller Eile die Sänger und Musiker des Vorjahres erneut verpflichtet und persönlich Ersatz für jene gesucht hatte, die sie nicht wieder hatte gewinnen können. Sie hatte sich vergewissert, dass die Kapelle angemessen geschmückt und die Musikinstrumente von allerbester Qualität waren, ja, sie hatte sogar die verblichenen oder zerknitterten Orchesterstimmen neu abgeschrieben.
Ob man es glaubt oder nicht, bei diesem gewichtigen Unterfangen hatte sogar ich, ein bescheidener Rauchfangkehrer, meine Rolle. Bei den Darstellern waren nämlich einige Kinder vonnöten, aber es gab nur wenige Familien, die bereit waren, ihre Kleinen zu fortgeschrittener Abendstunde aus dem Hause zu lassen. Camilla hatte uns daher gebeten, ihr zu helfen. Wir hatten gerne eingewilligt, und angesichts meiner geringen Körpergröße gewann die Chormeisterin mit unserer Familie nicht nur einen Darsteller, sondern deren zwei hinzu.
Also waren wir fast jeden Abend bei den Proben für den Heiligen Alexius in der Kaiserlichen Kapelle zugegen und nahmen, wenn nötig, an der Bühnenhandlung teil oder lauschten still den Übungen der Musiker.
Es war, als würde ich dem Gesang ein zweites Mal geboren: In meinem ganzen Leben hatte ich nie etwas anderes gehört als die Stimme Atto Melanis, wenn er die Noten seines alten Meisters, des Seigneur Rossi, sang. Und jetzt wollte es eine Laune des Schicksals, dass ich statt der Arien Luigi Rossis diejenigen einer de’ Rossi hörte; nahezu derselbe Nachname, der sich für mich von nun an unzertrennbar mit der Idee des Gesangs verband.
Obzwar eingeschüchtert durch unsere mangelnde Kenntnis der Kunst Euterpes, konnten mein Kleiner und ich uns mittlerweile doch einiger Bekanntschaften in der bunten Truppe der Orchestermusiker rühmen, deren nicht wenige bei Hofe gut eingeführt waren. Sie grüßten uns jeden Abend höflich und wechselten einige freundliche Worte mit uns: der Theorbenspieler Francesco Conti, der reichlich Solopartien im Heiligen Alexius hatte; Contis Gattin, die Sopranistin Maria Landini, genannt «die Landina», welche die Rolle der Braut des Alexius spielte; der Tenor Carlo Costa, der im Oratorium Alexius’ Vater verkörperte; schließlich Carlo Agostino Ziani, stellvertretender Kapellmeister der Kaiserlichen Hofkapelle, und der Hofdichter Silvio Stampiglia. Beide schätzten die Musik Camilla de’ Rossis außerordentlich und kamen häufig, um den Proben für das Oratorium zu lauschen.
Mit derart hochstehenden Persönlichkeiten, die uns ihre Gunst vornehmlich darum gewährten, weil sie wussten, dass wir Freunde der Chormeisterin waren, kamen wir allerdings nur flüchtig in Kontakt. Der Einzige, der sich mit uns in Gesprächen von einer gewissen Dauer erging, war ein Sänger und Italiener, wie der größte Teil der Musiker in Wien. Er hieß Gaetano Orsini und spielte im Oratorium die Hauptfigur.
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