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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Neugebäu, zum achten Weltwunder, bei dessen Anblick jedem Besucher der Atem stockte.»
    Die Türken, welche die feinsinnigen Allegorien nicht erkannten, liebten und verehrten den Ort Ohne Namen. Für sie war er nichts anderes als das getreue Abbild der Zeltstadt ihres ruhmreichen Sultans.
    Als sie Wien im Jahre 1683 erneut belagerten, sorgten sie sogar dafür, dass der Ort unbeschädigt blieb. Keine türkische Gesandtschaft, die nach Wien kam, versäumte es, den Ort Ohne Namen wenigstens einmal zu besuchen. Einige schlugen am Vorabend ihres Einzugs in die Stadt sogar ihr Lager auf der Ebene vor dem Schlosse auf, zum Zeichen ihrer Verehrung für diese heilige Stätte, deren Mauern sie tränenüberströmt küssten, als seien sie eine Reliquie. Rührung überkam sie, wenn sie in dem viertausend Schritt großen Serail und seinen sechzehn turmbewehrten Ecken, deren bloßer Anblick alle Sinne gleichzeitig betörte, die vollendete Nachahmung von Süleymans Zeltlager wiederfanden.
    Durch die europäischen Verbündeten der Hohen Pforte wurde dem Ort Ohne Namen leider eine gänzlich andere Behandlung zuteil. Die Kuruzzen, ruchlose ungarische Rebellen, wüteten bei einem ihrer schamlosen Raubzüge vor sechs oder sieben Jahren gegen diese armen Mauern. Das Schloss wurde verwüstet, verunstaltet, in Brand gesetzt. Was über ein Jahrhundert lang der Vernachlässigung getrotzt hatte, wurde in wenigen Minuten zerstört.
    «Nach so vielen Jahren! Glaubst du nicht, dass das eher ein Zufall war? Meinst du wirklich, die Kuruzzen haben den Ort Ohne Namen seiner symbolischen Bedeutung wegen zerstört?», fragte ich.
    «Solange es Feinde der Christenheit gibt, wird es Feinde dieser Stätte geben, Herr Meister. Der Hass gegen den Ort Ohne Namen tobt noch immer.»
    Ich hätte ihn gerne gefragt, in welcher Form und durch wen dies seiner Meinung nach geschah, doch in diesem Moment tauchte Frosch auf, um nachzusehen, wie weit wir gekommen waren.
    Wir berichteten ihm, die Abzüge des maior domus seien durchaus nicht in dem befürchteten verheerenden Zustand, und einige hätten wir auf der Stelle instand setzen können. Doch um ein Verzeichnis aller Rauchabzüge des Neugebäus anzulegen, benötigten wir Zeit. Am nächsten Tag würden wir nicht wiederkommen, erläuterte ich, da wir unten in der Stadt dringende Reparaturarbeiten durchführen müssten.
    Nach dem maior domus inspizierten wir einige der Dienstgebäude. Bewaffnet mit Spatel, Kehrstangenhaspel, Leinsternen und Kugelschlag, schufteten wir den ganzen Tag, um die Rauchfänge des Neugebäus zu säubern, und waren zuletzt völlig erschöpft und verdreckt. Doch noch spürte ich genug Kraft in den Beinen, um einer unerledigten Pflicht nachzukommen. Fast schien mir, als würde jenes Wesen, das absonderlichste des ganzen Schlosses, auf meinen Besuch warten (wenn ein toter Gegenstand überhaupt warten kann).
    Ich blickte umher, Frosch war nicht in der Nähe. Darauf schlugen wir den Weg zum Ballspielplatz ein.
    Es lag immer noch dort, wachsam und reglos, doch gefährlich blinkte sein Schnabel, als hoffte es, eines Tages wieder die kalte Luft des Himmels über Wien durchschneiden zu können. Das Fliegende Schiff mit dem furchteinflößenden Aussehen eines großen Raubvogels ruhte auf seinem breiten Bauch aus Holzbalken, und vergebens breitete es die Flügel aus. Simonis umrundete es mehrmals und machte darauf einen Satz in sein Inneres, zusammen mit meinem Kleinen, der vor Neugierde sehr aufgeregt war.
    Nun, da seine Erzählung vom Ort Ohne Namen und seinem Erbauer beendet war, fiel der Grieche in sein gewohntes Naturell zurück und bestürmte mich prompt mit einer Unzahl geistloser Fragen, die nicht einmal eine Antwort verdienten. Hatte das Schiff sich dank seiner Vogelform in die Lüfte erheben können? Aber warum ausgerechnet ein Raubvogel? Und gesetzt, es würde wieder fliegen, würde es dann nicht die Löwen und die anderen wilden Tiere im Neugebäu erschrecken? Ob es wohl auch schwimmen konnte? Oder müsste es zu diesem Zwecke nicht eher die Form eines Wasservogels oder, besser, die eines Fisches haben?
    Ich antwortete ihm kaum oder nur einsilbig. Die Entdeckung der bedeutungsschweren Symbolik des Ortes Ohne Namen und die Erzählung des Griechen hatten viele Fragen in mir aufgeworfen und mich in eine innere Aufregung versetzt, die mich während der Arbeit vorzeitig hatte ermüden lassen. An diesem Tage war in meinem Herzen kein Platz mehr für die nächsten Rätsel, welche das gefiederte

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