Veritas
ausführliche Beschreibungen seiner Ehe mit Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg und seiner triumphalen Ernennung zum Römischen König, mit welchem Titel im Reich der Kronprinz bezeichnet wird. Ganz zu schweigen von den Berichten über seine Feldzüge, allen voran die Belagerung und Eroberung der Festung Landau in der Pfalz: Der erst vierundzwanzigjährige Joseph hatte sie in den Jahren 1702 und 1704 persönlich den Franzosen entrissen. 1703 konnte Frankreich sie allein darum zurückerobern, weil Kaiser Leopold, aus Gründen, die mir unbekannt waren, seinen Sohn nicht in die Schlacht hatte schicken wollen.
Nun, das war es, was mir auf Anhieb in den Sinn kam von all dem, was ich über meinen Herrscher gelesen, insonderheit aber von meinen Zunftbrüdern, den Schornsteinfegern, direkt vernommen hatte. Recht gern hatten sie meine wissbegierigen Fragen nach der Kaiserlichen Familie mit einer Fülle von Einzelheiten befriedigt und in mir eine tiefe Verehrung für meinen neuen Souverän aufblühen lassen.
Doch entsann ich mich keines einzigen Details, das mit dem Ort Ohne Namen und seiner Geschichte zusammenhing. Oder vielleicht doch: die auffallende Schönheit des jungen Kaisers (wahrhaft einzigartig im unglückseligen Geschlecht der Habsburger), die ein Spiegel seines ungestümen, gebieterischen Charakters war (auch dieser überaus rar in jener Sippe); sodann Josephs Bestreben, sich über die Familientraditionen hinwegzusetzen, und die daraus folgenden Zerwürfnisse mit dem Vater, einem von Jesuiten erzogenen parvus animus , ebenso die Zerwürfnisse mit dem Bruder Karl, einem unnahbaren, wenig entscheidungsfreudigen Menschen, auch er ein Jesuitenzögling.
Ich nahm mir vor, später in den Büchern und Schriften, welche ich bei meiner Ankunft in Wien erstanden hatte, über den Kaiser zu blättern. Hier würde ich die Antwort auf meine Fragen finden.
Zurück im Kloster nach dem in Windeseile verschlungenen, lukullischen Nachtmahl, genoss ich schon im Voraus den Moment, da ich mich in die Lektüre stürzen würde, um meine Wissbegier nach dem Ort Ohne Namen zu stillen.
«Seyd gegrüsset. Heuer werden wir eine Lection halten vom Spatzieren gehen und vom Essen und Trincken.»
Der Satz traf mich wie ein Dachziegel auf den Kopf. Wer mich so ansprach, just als ich den Korridor des Gästehauses betrat, war Ollendorf, der Deutschlehrer. Ich hatte ihn vergessen: Die so sehr gefürchtete Stunde des Sprachunterrichts stand bevor. Unwillig verabschiedete ich mich vorerst von meinen Forschungen über Joseph I. und den Ort Ohne Namen.
Mein geringes Talent für fremdländische Idiome trat aufgrund der Müdigkeit, mit der ich in den Unterricht ging, jedes Mal in beschämender Blöße zutage. Am heutigen Abend würde ich, so fürchtete ich, eine noch jämmerlichere Figur vor Ollendorf abgeben als beim letzten Mal. Im Versuch zu beschreiben, wie man einer Dame in der besten Weise seine Ehrerbietung bezeigt, das heißt, ihr die Hand küsst, hatte ich «Hund» statt «Hand» gesagt, was bei meiner Gattin und unserem Kleinen unbändige Heiterkeit, bei Ollendorf aber tiefe Enttäuschung ausgelöst hatte.
Cloridia weilte noch im Palais des Prinzen Eugen. Ich war so begierig, mich für meine Lektüre zurückzuziehen, dass ich mich bei dem Sprachlehrer unter dem Vorwand großer Erschöpfung entschuldigte und ihn bat, an diesem Abend nur dem Kleinen Unterricht zu erteilen.
Nachdem ich mich im Schlafzimmer eingeschlossen, goss ich Wasser in den Kessel auf dem Kamin, um es zu erwärmen und mich damit zu waschen. Erfreut hörte ich derweil, welch treffliche Fortschritte mein Sohn im Deutschen machte:
«Deß Herrn Diener, mein Herr, wie gehet’s dem Herrn?» , fragte der Lehrer, indem er seinen kleinen Schüler im Spiel wie einen Edelmann ansprach.
«Wohl Gott lob, dem Herrn zu dienen, was für gute Zeitungen bringt mir der Herr?» , antwortete der Kleine eifrig.
Ich hatte mich soeben gesäubert und mich an die Lektüre des Stapels verschiedener Papiere geschickt – Flugschriften und andere Druckwerke über Leben und Taten unseres Erlauchtesten Kaisers –, als ich einen Schlüssel im Türschloss rumoren hörte. Meine Gemahlin war zurückgekehrt.
«Mein Schatz!», empfing ich sie und ging ihr entgegen, mich im Stillen damit abfindend, dass ich meine Nachforschungen verschieben musste.
Seit fast zwei Tagen hatten meine Frau und ich keine Gelegenheit mehr zum Gespräch gehabt, und ich war gespannt auf Neuigkeiten über die
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