Veritas
Segelschiff stellte.
Während ich im Ballspielhaus mit Besen und Zuggewichten fuhrwerkte, um einen der halbverstopften Kamine zu reinigen, dachte ich an Simonis’ Erzählung vom Ort Ohne Namen zurück. Er hatte angedeutet, dass das Anwesen vernachlässigt worden war. Also war es schon vor dem verheerenden Überfall der Kuruzzen verlassen gewesen. Hatten Ilsung und Hag demnach über Maximilian gesiegt? Und auf welche Weise? Und warum hatte kein Kaiser sich dieses wunderbaren Ortes je wieder angenommen? Ich fragte den Griechen danach.
«Um die Wahrheit zu sagen, hatten einige Kaiser, darunter auch Leopold erlauchten Angedenkens, der Vater unseres geliebten Joseph I., mehr oder weniger zaghafte Restaurierungen geplant. Doch letztlich hat keiner je irgendetwas in die Tat umgesetzt oder, sagen wir, fast nichts.»
«Und warum nicht?», wunderte ich mich.
«Geldmangel», antwortete mein Gehilfe augenzwinkernd, nun wieder hellwach und scharfsinnig. «Ihre Reichspfennigmeister und die Hofzahlmeister fanden immer tausenderlei Ausflüchte, um die Arbeiten am Ort Ohne Namen nicht bezahlen zu müssen, weil …»
«… weil die Familien der großen Geldgeber, die hinter den Zahlmeistern standen, immer noch die gleichen waren», kam ich ihm zuvor.
«Erraten, Herr Meister. Wollt Ihr den Beweis? Sogar der Vormund, den Leopold I. als Kind hatte, war ein Fugger. Es sind dieselben geblieben. Und seit Generationen hassen sie den Ort Ohne Namen.»
«Sind sie demnach wirklich so viel mächtiger als die Kaiser?»
«Hier kommt die Angst ins Spiel, Herr Meister. Alle erlauchten Kaiser zwischen Maximilian und Ihrer Kaiserlichen Majestät Joseph I. haben stets einen großen Bogen um den Ort Ohne Namen gemacht, weil sie Angst hatten, so zu enden wie Maximilian.»
«Warum, was widerfuhr ihm?»
Simonis schien mich jedoch nicht zu hören. Er hatte sich ins Freie begeben, um das sinkende Licht des Tages zu beobachten.
«Eilen wir uns, Herr Meister», rief er keuchend aus, als er zurückkam. «Es ist schon spät, in Kürze schließen die Stadttore!»
18.30 Uhr, Torsperre. Nachzügler müssen 6 Kreuzer bezahlen. Die Bierglocke läutet: Es schließen die Schänken, und niemand darf mehr bewaffnet oder ohne Laterne durch die Straßen gehen.
Wir trieben das arme Maultier fast bis aufs Blut mit Peitschenhieben an und konnten gerade noch rechtzeitig durch die Stadtmauern fahren, um die sechs Kreuzer Bußgeld nicht zahlen zu müssen. Eine Ersparnis von nur kurzer Dauer, da das Nachtmahl im Beisl uns aufgrund der Verspätung gute vierundzwanzig Kreuzer pro Kopf kostete statt der üblichen acht.
Auf der Heimfahrt kauerte ich wie gewohnt im Karren, wo die Stöße der Räder mir die Eingeweide umdrehten, während Simonis und der Kleine auf dem Kutschbock saßen, und dachte über die wunderliche Erzählung des Griechen nach.
Jetzt, da ich die Geschichte des Ortes Ohne Namen kannte, erschien mir die Entscheidung Ihrer Kaiserlichen Majestät Joseph I. in einem neuen Licht. Warum nur wollte Joseph den Schleier des Vergessens zerreißen, den seine Vorgänger über das Neugebäu gelegt hatten? Sicher kannte er die traurige Geschichte seines Ahnen Maximilian II. und die zahlreichen Feindseligkeiten und Racheakte, welche diese Parodie von Süleymans Feldlager hervorgebracht und wieder zerstört hatten. Sicher hatte er leicht erraten können, wenn er es nicht sogar mit eigenen Ohren gehört hatte, dass es gerade diese finstere Aura war, die seine umsichtigen Vorgänger vom Ort Ohne Namen ferngehalten hatte. Was mochte Joseph nur bewogen haben, einzugreifen in eine jahrhundertealte Fehde, deren Schwelbrand nach Simonis’ Worten alles andere als erloschen war?
Ich dachte an unseren geliebten Kaiser: Was wusste ich eigentlich von ihm?
Seit meiner Ankunft in Wien hatte ich versucht, mir Kenntnisse über Wesensart, Ruhm und Taten meines neuen Herrschers sowie über die Erwartungen, die das Volk in ihn setzte, zu verschaffen. Denn nach einem Leben als Untertan von mehr oder weniger betagten Päpsten war es mir eine angenehme neue Erfahrung, einem jungen Monarchen ohne Soutane und Hirtenstab zu dienen.
Schriften über Joseph I., genannt der Sieghafte, waren viele im Umlauf. Allesamt Lobeshymnen oder Geschichten über seine Kindheit und seine dem Fürsten zu Salm anvertraute Erziehung (er war der erste Kaiser, der nicht von Jesuiten erzogen worden war – sein Vater Leopold hatte sich dem Hass seiner Untertanen auf die Gesellschaft Jesu gebeugt), sodann
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