Verlangen
betrachtete sie kühl. Sie sah tatsächlich betroffen aus. Offensichtlich hatte sie ein solches Ergebnis nicht erwartet, als sie das Scharmützel eröffnet hatte.
»Ich kann deine Überraschung verstehen«, sagte er freundlich. »Ich bin ziemlich sicher, daß du, als du vor ein paar Minuten hier hereinspaziert kamst, sicher warst, den Raum als Siegerin zu verlassen. Du bist zu klug, um einen Angriff zu wagen, wenn du nicht überzeugt bist, daß du gewinnst. Aber du hast mich unterschätzt, meine Liebe, und ich fürchte, du wirst weiterhin die Verliererin sein, wenn du nicht aufhörst, mich herauszufordern. Ein guter Feldmarschall macht niemals den Fehler, seinen Gegner zu unterschätzen.«
»Du sprichst, als stünden wir auf dem Schlachtfeld.«
Lucas nickte düster. »Ich fürchte, das ist genau die Situation, die du geschaffen hast.«
»Wie konnte ich nur denken, du wärst vielleicht doch ein erträglicher Ehemann.« Sie wirbelte herum, eilte zur Tür und riß sie auf, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, vor ihr dort zu sein.
»Wo willst du hin, Vicky?«
»Raus.« Ihr Lächeln hätte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen können.
»Vicky, wenn du denkst, du könntest jetzt wütend davonrauschen und neuen Unfug treiben, dann irrst du dich.«
»Keine Sorge, Graf. Ich werde mich in guter Gesellschaft befinden. Ich fahre zu einer Versammlung beim Pfarrer. Und ich nehme an, daß selbst Sie mit Ihrem neuen tadellosen, konservativen, tugendhaften Benehmen nichts dagegen einwenden können, daß ich den Nachmittag mit solch ehrenwerten Leuten verbringe.«
»Was für eine Gesellschaft hält diese Versammlung ab?«
»Die Gesellschaft für die Erforschung rätselhafter Dinge«, erwiderte sie erhaben.
»Vielleicht finde ich die Zeit, dich zu begleiten«, begann er vorsichtig.
»Gütiger Himmel, Lucas, das ist unmöglich. Ich bin überzeugt, daß du viel zu beschäftigt bist, um mitzukommen. Du mußt hier so viele schwere, wichtige Entscheidungen treffen.« Sie verließ den Raum und schlug heftig die Tür hinter sich zu.
Lucas zuckte zusammen, als die Lampen zu schaukeln begannen. Einen Augenblick lang saß er ruhig da, und dann erhob er sich, durchquerte entschlossen das Zimmer und goß sich einen Brandy ein.
Er stand am Fenster, trank und sagte sich verdrießlich, daß es ein harter Kampf werden würde. Er hatte sich getäuscht, als er dachte, der schwierige Teil sei überstanden, wenn sie erst einmal seine Frau wäre. Offensichtlich kam die richtig harte Arbeit erst nach der Hochzeit.
Gütiger Gott. Hatte er sich unter der Last seiner neuen Verantwortung wirklich zu einem solchen Tugendbold gewandelt?
Als Victoria die gemütliche Wohnung der Pfarrersleute erreichte, kochte sie immer noch. Es gelang ihr jedoch, ein char- mantes Lächeln aufzusetzen, als sie in den gemütlichen, sonnigen Raum geführt wurde, in dem die Mitglieder der Oberschicht des Dorfes und ihre Frauen versammelt waren. Der Empfang war herzlich, und ihre schlechte Laune verflog schnell.
»Herzlich willkommen bei dem Treffen unserer Gesellschaft, Lady Stonevale. Wir versuchen gerade, ein Mittel gegen Gicht und rheumatische Beschwerden zu entwickeln«, erklärte Mrs. Worth, nachdem sie alle miteinander bekannt gemacht hatte. Sie zeigte zu einem Tisch, auf dem lauter kleine Gläser standen. Jedes dieser Gläser enthielt eine Flüssigkeit. »Wir interessieren uns sehr für Heilkräuter und -pflanzen. Sir Alfred hier zum Beispiel hofft, den Preis der Kunstgesellschaft zu erhalten, da er einen Weg gefunden hat, die Produktion von Opium in England zu steigern. Er hat tatsächlich ein sehr gutes Resultat erzielt.«
»Wie aufregend«, sagte Victoria. »Sie können sehr stolz sein, Sir Alfred.«
Sir Alfred errötete leicht.
»Und Dr. Thornby dort drüben hat mit verschiedenen Tinkturen und Absuden aus Alkohol und anderen Zutaten wie Süßholzwurzel, Rhabarber und Kamille herumexperimentiert.«
Nun war Dr. Thornby an der Reihe, vor Stolz zu erröten.
»Faszinierend«, murmelte Victoria, während sie die verschiedenen Gläser betrachtete. »Meine Tante und ich haben eine ganze Reihe medizinischer Vorträge zu diesem Thema besucht. Hatten Sie Erfolg mit Ihren Experimenten?«
»Wie Sie wissen«, begann Dr. Thornby mit kaum verhehltem Enthusiasmus, »ist die Kombination aus Alkohol und Opium im Laudanum äußerst wirksam bei der Schmerzbehandlung, wobei sie jedoch den Patienten äußerst schläfrig macht. Bei bestimmten Beschwerden ist das
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