Verlangen
seiner Pächter zurückkam. Eine schwankende Victoria wurde von Nan und zwei äußerst besorgten Pagen die Treppe hinaufgeführt. Lucas warf dem Stallburschen die Zügel seines Pferdes zu und stürzte zum Eingang.
»Mein Gott, was ist passiert? Bist du krank, Vicky?« Er sah sie besorgt an.
»Oh, hallo, Lucas.« Sie schenkte ihm ein seliges Lächeln und verlor dabei beinahe das Gleichgewicht. »Hat es dir Spaß gemacht, den ganzen Tag ein vorsichtiger, konservativer Tugendbold zu sein? Ich habe den Nachmittag auf eine wesentlich sinnvollere Weise genutzt. Ich habe ein kleines...«, sie unterbrach sich, um diskret aufzustoßen, »ein kleines Experiment durchgeführt.«
Brandygeruch stieg Lucas in die Nase. Er starrte die besorgte Zofe an, und langsam dämmerte ihm, was geschehen war. »Ich werde mich um Mylady kümmern«, sagte er mit stählerner Stimme.
»Ja, Mylord. Ich laufe und sage der Köchin, daß sie Mylady einen Tee kocht.«
»Das ist nicht nötig«, knurrte Lucas, während er Victoria auffing.
Er schleppte sie an dem besorgt blickenden Butler, zwei weiteren Pagen und einer Reihe Hausmädchen vorbei die Treppe hinauf ins Bett. Victoria lehnte sich graziös in die Kissen zurück, lächelte erneut und betrachtete ihn mit einem träumerischen Blick.
»Lucas, mein Lieber, du solltest dir wirklich abgewöhnen, so furchtbar drohend zu gucken. Weißt du, du hast die schlechte Angewohnheit, allzu finster zu blicken.«
»Was zum Teufel hast du getrunken?«
Sie runzelte die Stirn. »Laß mich überlegen. Größtenteils Brandy, glaube ich. Habe ich dir von dem Experiment erzählt?«
»Nein, aber wir können die Einzelheiten später besprechen.«
»O ja, heißt das, du willst mir schon wieder einen Vortrag halten?«
»Darauf kannst du wetten, Vicky«, sagte Lucas grimmig. »Ich toleriere eine Menge, meine Liebe, aber ich dulde auf keinen Fall, daß du am hellichten Nachmittag sturzbetrunken nach Hause kommst.«
»Ich glaube, du wirst mir später die Leviten lesen müssen, Lucas. Ich fühle mich im Augenblick nicht allzu gut.« Victoria drehte sich auf die Seite und griff eilig nach dem Nachttopf unter ihrem Bett.
Lucas seufzte und stützte ihren Kopf. Sie hatte recht. Die Strafpredigt würde warten müssen.
Wie sich herausstellte, mußte der Vortrag bis zum nächsten Morgen warten. Victoria versuchte, ihm gänzlich aus dem Weg zu gehen, indem sie erst spät erwachte und verkündete, sie gedenke, ihren Tee auf ihrem Zimmer einzunehmen. Doch kurz nach neun erschien eines der Mädchen mit der Nachricht, Lucas erwarte seine Gattin um zehn in der Bibliothek.
Victoria erwog kurz, diese Unannehmlichkeiten zu umgehen, indem sie behauptete, sie litte nach wie vor an den Folgen des wissenschaftlichen Experiments, doch ihr Pragmatismus überwog.
Sie sagte sich, ebensogut könne sie die Sache auch einfach hinter sich bringen, und stand zögernd auf. Sie runzelte die Stirn, als sie das leichte Kopfweh bemerkte, aber zumindest war ihr Magen wieder in Ordnung. Als ihre Zofe den Tee brachte, leerte sie den Becher in einem Zug. Jetzt fühlte sie sich etwas besser.
Sie wählte ihr leuchtendes weißgelbes Kleid und kleidete sich so sorgfältig an, als bereite sie sich auf einen förmlichen Besuch vor, bevor sie zögernd die Treppe hinabstieg.
Als sie die Bibliothek betrat, erhob Lucas sich von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch, um sie eingehend zu mustern.
»Bitte nimm Platz, Vicky. Ich muß zugeben, man sieht dir die Erschöpfung nicht an. Ich gratuliere dir zu deiner eisernen Konstitution. Ich kenne Männer, die nach der Art von Experiments wie du es gestern nachmittag durchgeführt hast, in einer wesentlich schlechteren Verfassung wären.«
»Der wissenschaftliche Fortschritt fordert gewisse Opfer«, entgegnete Victoria würdevoll, während sie sich setzte. »Ich bin stolz darauf, einen kleinen Beitrag zum Wohle der Menschheit geleistet zu haben.«
»Einen Beitrag zum Wohle der Menschheit?« Lucas’ Mundwinkel zuckten. »So nennst du das? Du bist mitten am Tag vollkommen betrunken nach Hause gekommen und willst mir erzählen, es hätte sich um eine wissenschaftliche Studie gehandelt?«
»Ich habe wissenschaftlicher Studien wegen schon wesentlich riskantere Dinge unternommen«, entgegnete Victoria bedeutungsvoll. »Man bedenke nur die Tatsache, daß ich deswegen mit einem Mann verheiratet bin, der mir nicht einmal gestattet, mein eigenes Geld nach Gutdünken auszugeben. Und das alles, weil ich den Gefahren
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