Verlangen
Vicky. Entdecke ich da Brummeis Einfluß bei deiner Wahl der Blautöne? Er mag diese Farbe besonders gern, wie mir berichtet wurde. Du hingegen hast immer Gelb bevorzugt.«
»Ich habe mir überlegt, daß ein gelber Frack ein wenig zu auffällig gewesen wäre für diesen Anlaß«, gestand Victoria.
»Also hast du dich mit einer gelben Weste begnügt. Ich gratuliere dir zu deiner Zurückhaltung. Und erzähl mir bitte, wer hat deine Krawatte gebunden? Ich versichere dir, daß ich einen derart ausgefallenen Knoten seit Jahren nicht mehr gesehen habe.«
»Gefällt er dir?« Victoria befühlte das sorgsam gebundene Halstuch. »Ich habe diesen besonderen Knoten selbst erfunden. Er nennt sich Victoire.«
Annabella brach in schallendes Gelächter aus. »Vicky, ich schwöre, du klingst genau wie einer dieser Dandys in der Bond Street. Du hast den Ton genau getroffen. Gerade die richtige
Nuance affektierter Langeweile. Ich sage dir, du könntest zur Bühne gehen und deinen Lebensunterhalt als Schauspielerin verdienen.«
»Nun, ich danke dir, Bella. Das ist tatsächlich ein großes Lob.«
Lucas lehnte sich in seinem Sitz zurück und betrachtete die elegante Person neben sich mit einem kritischen Blick. Sein anfänglicher Schock wich einem Gefühl von Ärger sowie einem gewissen Unbehagen, was neu für ihn war. Es war klar, daß Victoria Huntington einen ausgeprägten Sinn für Unfug hatte, und daß dieser sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen könnte.
»Laufen Sie oft so herum, Miss Huntington?«
Lucas bemerkte, daß er automatisch den Ton anschlug, den er in der Vergangenheit gegenüber jungen Offizieren verwendet hatte, die seinem Kommando unterstanden, und die in Schwierigkeiten geraten waren. Er konnte sich nicht helfen, er war verärgert.
»Dies ist meine erste Erfahrung mit Männerkleidern, Graf. Doch um ehrlich zu sein, ich könnte in Zukunft wohl versucht sein, es noch einmal auszuprobieren. Ich finde, daß mir die männliche Ausstattung weit mehr Freiheit gibt, als ich sie in Frauenkleidern genieße«, gab Victoria zu.
»Auf jeden Fall haben Sie so wesentlich bessere Möglichkeiten, eine Reihe von Demütigungen und gesellschaftlichen Katastrophen heraufzubeschwören, Miss Huntington. Wenn es bekannt würde, daß Sie Gefallen daran finden, nachts in Männerkleidern durch London zu spazieren, wäre Ihr guter Ruf binnen vierundzwanzig Stunden dahin.«
Victoria umklammerte den Griff ihres Spazierstocks fester. »Es wundert mich, daß Sie so etwas sagen, Graf. Wissen Sie, Ihre Einstellung überrascht mich. Ich hätte Sie nicht für einen solchen Tugendbold gehalten. Ich nehme an, das Kartenspiel auf dem Ball hat mir ein falsches Bild von Ihnen vermittelt. Finden Sie keinerlei Gefallen an Abenteuern? Nein, ich denke nicht.
Schließlich sind Sie ein guter Freund von Lady Atherton, nicht wahr?«
Die Frau wollte ihn aus der Reserve locken. Lucas wünschte sehnlichst, sie wären allein in der Kutsche. »Ich weiß nicht, worauf Sie anspielen, Miss Huntington, doch ich versichere Ihnen, daß Lady Atherton eine Frau ohne Tadel ist.«
»Nun ja, genau das ist es. Jedermann weiß, daß Jessica Atherton es sich nicht in einer Million Jahren erlauben würde, heute abend in dieser Kutsche auf dem Weg zum Jahrmarkt zu sitzen«, erklärte Victoria.
Annabella kicherte erneut. »Das ist gewiß wahr.«
»Wollen Sie damit sagen, Lady Atherton sei hausbacken?« fragte Lucas.
Victoria zuckte mit den Schultern, wobei die Bewegung in dem gutsitzenden Frack überraschend sinnlich wirkte. »Ich möchte niemanden beleidigen, Graf. Ich sage nur, daß sie nicht zu den Frauen gehört, die das Abenteuer lieben. Da ist natürlich anzunehmen, daß ihre Freunde ebenfalls nur einer geringen Anzahl von Vergnügungen frönen, und daß auch sie eine Abneigung gegen Menschen mit vielfältigeren Interessen hegen.«
»Und Sie sind eine Frau mit einem Sinn fürs Abenteuer?« stichelte Stonevale.
»O ja, Graf. Ich mag es sehr.«
»Obgleich Sie dabei Gefahr laufen, Ihren gesellschaftlichen Ruf zu ruinieren?«
»Es gibt kein echtes Abenteuer ohne echtes Risiko, oder, Graf? Ich hätte gedacht, ein erfolgreicher Spieler wie Sie wüßte das.«
Bei ihren Worten wurde ihm noch unbehaglicher. »Vielleicht haben Sie recht, Miss Huntington. Doch ich habe immer Spiele bevorzugt, bei denen die Chancen gut für mich standen.«
»Wie öde muß Ihr Leben sein, Graf.«
Instinktiv wollte Lucas auf diese anmaßende Bemerkung reagieren, doch sofort fing er
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