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Verlangen

Titel: Verlangen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Quick
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gute Chirurgen ausgebildet werden, wenn es keine Möglichkeit zum Üben gibt? Leichenraub mag zwar illegal sein, er dient jedoch der Erfüllung einer berechtigten Nachfrage.«
    »Bitte, entschuldige mich«, wisperte Victoria ihrer Tante zu, als die Unterhaltung über den Handel mit toten Körpern die allgemeine Aufmerksamkeit zu bannen schien. »Ich glaube, ich werde jetzt zu Bett gehen.«
    »Schlaf gut, meine Liebe.« Cleo tätschelte ihr liebevoll die Hand. »Erinnere mich morgen früh daran, dir die wunderbare Käfersammlung zu zeigen, die Lady Woodbury mitgebracht hat. Sie hat sie alle auf ihrer letzten Reise nach Sussex gefunden. Freundlicherweise hat sie uns gestattet, die Käfer einige Tage lang zu untersuchen.«
    »Ich freue mich darauf, sie zu sehen«, sagte Victoria nicht ohne ehrliche Begeisterung. Eine interessante Insektensammlung war beinahe ebenso aufregend wie eine neue exotische Pflanze. »Aber jetzt muß ich wirklich ins Bett.«
    »Gute Nacht, Liebes. Du darfst dich nicht überanstrengen, weißt du? Vielleicht hast du in der letzten Zeit ein wenig zuviel unternommen. Da ist es gerade recht, wenn du einmal vor Morgengrauen zu Hause bist.«
    »Ja, vielleicht stimmt das.« Victoria verließ die dunkle Bibliothek und blinzelte ein paarmal in der hell erleuchteten Eingangshalle, bevor sie die mit einem roten Teppich ausgelegte Treppe erklomm. Als sie den Treppenabsatz erreichte, erfaßte sie eine überwältigende Aufregung.
    »Du kannst jetzt gehen, Nan«, verkündete sie ihrem jungen Dienstmädchen, als sie ihr luftiges, in Gelb, Gold und Weiß gehaltenes Schlafzimmer betrat.
    »Aber Ihr wunderbares Kleid, Madam. Sie werden Hilfe beim Ausziehen benötigen.«
    Victoria lächelte resigniert, da sie wußte, daß sie nur unnötige Fragen heraufbeschwören würde, wenn sie das Hilfsangebot ablehnte. Doch schon bald entließ sie ihre Zofe, um sich anschließend den Tiefen ihrer Kleiderkammer zuzuwenden.
    Aus einer Reihe Schals zog sie Männerreithosen heraus, und unter einem Stapel Decken holte sie ein Paar Stiefel hervor. Den Frack fand sie dort, wo sie ihn in ihrer großen, hölzernen Truhe versteckt hatte. Anschließend begab sie sich an die Arbeit.
    Innerhalb kurzer Zeit stand Victoria vor ihrem Ankleidespiegel und überprüfte ihr Erscheinungsbild mit kritischem Auge. Über Wochen hinweg hatte sie die Männerkleidung unauffällig zusammengetragen, und nun probierte sie die Ausstattung zum ersten Mal in ihrer Gesamtheit.
    Die Reithosen lagen ein wenig zu eng an, so daß die Rundung ihrer Hüften und die weibliche Form ihrer Waden betont wurden, doch das war nicht zu ändern. Mit etwas Glück würden die Schöße des Fracks und das Dunkel der Nacht die auffälligsten Anzeichen ihrer Weiblichkeit überdecken. Zumindest ließen sich ihre eher kleinen Brüste leicht unter dem sorgsam geplätteten Hemd und der gelben Weste verbergen.
    Als Victoria den Zylinder im verwegenen Winkel auf ihr kurzes Haar setzte, war sie mit dem Gesamteindruck zufrieden. Sie war sicher, daß sie sich zumindest nachts gefahrlos als junger Dandy würde ausgeben können. Schließlich sahen die Menschen immer nur das, was sie zu sehen erwarteten.
    Vorfreude wallte in ihr auf, und widerwillig erkannte sie, daß ihre Aufregung eher dem Wiedersehen mit Stonevale galt als dem bevorstehenden Ausflug auf den Jahrmarkt.
    Annabella hatte recht. Stonevale mußte ein Gentleman sein, ansonsten würden Lady Atherton und Bertie Lyndwood ihn nicht zu ihren Bekannten zählen. Doch eine Frau, besonders eine reiche Erbin, durfte sich nicht auf das Ehrgefühl irgendeines Mannes verlassen. Diese Lektion hatte ihr der Stiefvater erteilt. Immerhin wußte Victoria, daß sie heute nacht sicher sein würde, solange sie die Kontrolle über das Geschehen behielt.
    Sie entspannte sich und gestattete sich ein kurzes, selbstsicheres Lächeln. Sie hatte eine Menge Erfahrung, was die Beherrschung von Situationen betraf, an denen Männer beteiligt waren. Victoria überquerte den tiefblauen Teppich und ließ sich in dem mit gelbem Samt bezogenen Sessel neben dem Fenster nieder. In Kürze würde sie unbemerkt das Haus verlassen können.
    Heute nacht würde sie keine Zeit haben, sich wegen der schleichenden Unruhe zu sorgen, von der sie in den langen, dunklen Nachtstunden regelmäßig geplagt wurde; keine Zeit, sich dem Gefühl hinzugeben, daß etwas Gefährliches drohte; keine Zeit, sich Gedanken zu machen über seltsame Vorstellungen wie die Möglichkeit, die Toten

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