Verlangen
begnügen schien, sie zu ignorieren, solange sie ihn in Ruhe ließ.
Der erste Eindruck von ihrem neuen Heim war nicht gerade ermutigend. Auch ohne ihre profunden Kenntnisse in Gartenbau und Botanik hätte sie festgestellt, daß die Ernte dieses Sommers im besten Falle mittelmäßig würde. Von den heruntergekommenen Hütten der Bauern bis hin zu den ausgemergelten Tieren, die teilnahmslos auf den Feldern herumstanden, wirkte alles äußerst deprimierend.
Die leeren Auslagen des Dorfladens verstärkten noch den Eindruck wirtschaftlichen Ruins, der wie eine dunkle Wolke über der Gegend zu schweben schien. Victoria runzelte die Stirn, als sie mehrere Kinder entdeckte, die im Schmutz herumtollten. Ihre Kleider waren so zerlumpt wie die der Bälger in den Armenvierteln von London.
»Das ist unentschuldbar«, flüsterte sie Nan zu. »Man hat diese Ländereien einfach verfallen und verrotten lassen.«
»Ich nehme an, da kommt eine Menge Arbeit auf Seine Lordschaft zu«, erwiderte Nan vorsichtig. Sie war sich der Gefühle nur allzu bewußt, die ihre Herrin für den Grafen hegte. »Er hat sich seinen Titel ehrlich verdient, wenn es ihm gelingt, diesen Ort wieder zum Leben zu erwecken.«
»In der Tat«, pflichtete Victoria ihr grimmig bei und fügte in Gedanken hinzu, »und dafür braucht er mein Geld.« Zum ersten Mal wurde ihr das Ausmaß der Bürde bewußt, die Lucas mit dem Erbe von Stonevale übernommen hatte. Die Menschen, die in der Umgebung der Güter lebten, waren abhängig vom Wohlstand und der Führung durch das Herrenhaus. Victoria wurde klar, daß die Zukunft der Pächter und Dorfbewohner eng mit der von Stonevale verbunden war.
Sie fragte sich, ob sie vielleicht auch wegen des Geldes geheiratet hätte, wenn ihr die Aufgabe zugefallen wäre, diese Ländereien zu retten. Wahrscheinlich nicht. Aber wie Lady Atherton gesagt hatte, verdammt, man tat, was man tun mußte.
Diese Erkenntnis stimmte Victoria jedoch nicht im geringsten milder. Sie könnte es zwar vielleicht verstehen, daß er eine reiche Frau heiraten mußte; sie würde ihm jedoch niemals verzeihen, daß er sie ausgesucht und in diese Ehe gelockt hatte. Er hätte gewiß ein williges Opfer gefunden, wenn er bereit gewesen wäre, sich bei den Damen der besseren Gesellschaft etwas länger umzusehen. Es gab Frauen, die würden ein Vermögen geben, nur um einen Titel zu erlangen.
»Es ist ein hübsches Haus, nicht, Ma’am?« sagte Nan, die aufgeregt aus dem Fenster spähte, um einen ersten Blick von dem großen Stonevaleschen Herrenhaus zu erhaschen. »Schade, daß die Felder und der Garten so verkommen sind. Kein bißchen wie der Landsitz von Lady Nettleship.«
Victoria ertappte sich dabei, wie sie sich vorbeugte, um einen Blick zu wagen, obgleich sie sich geschworen hatte, alles, was Lucas’ Heim betraf, mit Mißachtung zu strafen.
Ihre Zofe hatte recht. Stonevale war ein prächtiges Haus. Die Steinfassade war beeindruckend und wohlproportioniert. Die breiten Treppen führten hinab auf einen gepflasterten Hof und eine breite, geschwungene Auffahrt, in deren Mitte sich ein Teich mit einem großen Brunnen befand. Doch statt Wasser füllte Schotter den Teich, und auch der Brunnen war trocken.
Das Haus wirkte ebenso deprimierend und hoffnungslos wie das Dorf und die umliegenden Felder. Als die Kutsche hielt, starrte Victoria ihr neues Heim mit einem Gefühl der Bestürzung an. Es war einfach nicht vergleichbar mit der luxuriösen, bequemen, gepflegten Welt, in der sie bei ihrer Tante gelebt hatte.
Lucas übergab das Pferd einem Stallburschen und kam herüber, um Victoria die Stufen hinauf ins Haus zu geleiten.
»Wie du siehst«, sagte er ruhig, »gibt es viel zu tun.«
»Das haben Sie gut beobachtet, Graf.« Sie fühlte sich benommen.
»Ich würde diese Aufgabe gern mit dir gemeinsam meistern,
Vicky. Stonevale ist jetzt ebenso dein Zuhause wie meins. Und es wird das Zuhause unserer Kinder sein.«
Bei diesen Worten fuhr sie zusammen, da sie sich an Jessica Atherton erinnerte. Wenn Sie sich nicht dazu überwinden können, Lucas echte Zuneigung entgegenzubringen, denken Sie daran, wie schwer es für ihn ist. Schließlich braucht er einen Erben.
Obgleich sie sich sofort wieder zusammennahm, wußte Victoria, daß Lucas den kurzen Anflug von Ärger bemerkt hatte. Sein Blick wurde hart. »Ich werde dich der Dienerschaft vorstellen, obwohl wir bisher nicht gerade viele Bedienstete haben. Der Butler heißt Griggs. Ich habe ihn aus London mitgebracht.
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