Verlangen
»Auf jeden Fall habe ich den charmantesten und galantesten aller Ehemänner erwischt, nicht wahr? Was könnte sich eine Braut sonst noch wünschen?«
10
Er erwartete sie in der Bibliothek neben dem Fenster, das auf den Garten hinaus ging, in dem er so oft um Mitternacht gestanden hatte. Victoria betrat den Raum und hörte, wie die Tür leise hinter ihr ins Schloß fiel. Respektvolle Stille schien sich über den Haushalt gesenkt zu haben, so als hielte jedermann den Atem an.
Sämtliche Dienstboten, einschließlich ihrer Zofe und Rathbone, bewegten sich mit größter Vorsicht, stellte sie fest. Lucas war erst seit wenigen Stunden ihr Ehemann, und eigentlich war er nur Gast im Hause ihrer Tante, doch hatte er sich deutlich als Autoritätsperson zu erkennen gegeben. Niemand wagte es, ihn zu reizen. Diese Aufgabe war Victoria überlassen.
»Sie haben nach mir geschickt, Graf?« fragte sie mit eisiger Höflichkeit.
Er beobachtete, wie sie ein paar Schritte in die Mitte des Raumes machte und dann stehenblieb. Sein Gesichtsausdruck war äußerst beherrscht. »Du hast dich noch nicht umgezogen.«
Es erforderte mehr Mut, als sie gedacht hatte, ihm ihre Entscheidung mitzuteilen. »Aus dem einfachen Grund, weil ich Sie nicht begleiten werde. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, Graf.« Sie machte kehrt und ging zurück in Richtung der Tür.
»Wenn du jetzt einfach den Raum verläßt, Vicky, wirst du es mehr bereuen, als du es dir wahrscheinlich vorstellen kannst.«
Die tödliche Sanftheit in seiner Stimme zwang sie zum Stehenbleiben. Gelassen schaute sie sich um. »Verzeihung. Wollten Sie mir noch etwas sagen?«
»Eine ganze Menge. Doch es ist schon spät, und ich würde es vorziehen, diese Unterhaltung in der Kutsche zu führen anstatt in der Bibliothek deiner Tante. Für den Moment möchte ich mich lediglich für Lady Athertons Gefühlsausbruch entschuldigen. Ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung, daß sie sich auf eine so unglückliche Weise gehen lassen würde.«
»Ja, sie hat einen höchst ungünstigen Augenblick gewählt, nicht wahr? Wann wollten Sie mir denn die Wahrheit sagen?«
»Welche Wahrheit hätte ich dir denn sagen sollen? Daß ich Jessica einst gebeten habe, meine Frau zu werden? Das gehört doch längst der Vergangenheit an, Vicky. Das betrifft uns doch nicht.«
»Verdammt«, zischte sie. »Du weißt ganz genau, welche Wahrheit mich jetzt interessiert. Du hast dich absichtlich an mich herangemacht, weil ich eine reiche Erbin bin. Besitzt du jetzt etwa noch die Verwegenheit, diese Tatsache leugnen zu wollen?«
Lucas hielt ihrem kalten Blick stand. »Nein. Aber du erinnerst dich gewiß, daß du das ja gleich zu Beginn unserer Beziehung erraten hast. Ich meine, mich deutlich daran erinnern zu können, daß du mich zunächst abgewiesen hast. Aber trotzdem wolltest du das, was ich dir anbot, nicht wahr? Du hast ein gefährliches Spiel gespielt, aber du wolltest es so. Hast du mir nicht selbst einmal gesagt, daß es kein echtes Risiko ohne echte Gefahr gibt?«
»Mußt du mir meine eigene Dummheit Vorhalten?«
»Warum nicht? Etwas anderes erwartest du von mir doch gar nicht. Ich bin doch bloß ein herzloser Mitgiftjäger, der sich eine reiche Erbin geangelt hat.«
Sie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand in den Magen geboxt. »Und jetzt erwartest du, daß ich diese Erniedrigung klaglos hinnehme?«
Mit ein paar kurzen Schritten durchquerte er den Raum und ergriff ihren Arm. Seine Augen funkelten. »Verdammt, ich erwarte, daß du mir ein wenig vertraust. Während der letzten Wochen warst du schließlich durchaus bereit, mir deine Sicherheit und deine Ehre anzuvertrauen. Und jetzt, wo du meine Frau bist, erwarte ich dasselbe.«
»Dir vertrauen? Nach allem, was du mir angetan hast?«
»Was habe ich dir denn so Schlimmes angetan? Ich habe es nicht darauf angelegt, daß man uns letzte Nacht entdeckte. Ich
habe dir gesagt, daß der ganze Plan höchst riskant war, aber du brauchtest ja deine wissenschaftliche Studie um jeden Preis.«
»Wage es ja nicht, dich über mich lustig zu machen, Lucas.«
»Ich mache mich nicht lustig über dich. Ich erinnere dich lediglich daran, wie du versucht hast, deinen Wunsch, mit mir die Nacht zu verbringen, zu rechtfertigen. Du wolltest das, was letzte Nacht geschehen ist, ebenso wie ich. Verdammt, du hast sogar gesagt, daß du mich liebst.«
Victoria schüttelte den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich sagte, ich glaube, daß ich dich liebe. Offensichtlich
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