Verletzlich
abwechselnd ängstlich, dass er noch heute Nacht zurückkehren könnte, und wütend, dass er mir immer nur als Geist erschien. Das wuchs sich zu einem Psychokrieg aus.
Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich körperlich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Punkt, an dem ich nur überleben wollte, war überschritten. Ich hatte genug von seinen Spielchen. Ich wollte Moreau ruinieren, ihn zerstören, zermalmen. Aber dafür musste ich mehr darüber wissen, wo er war und was er tat.
Wieder saßen sie auf der steinernen Mauer. Aus der Ferne sahen sie aus wie lavendelfarbene Laternen mitten im Wald.
»Ach, unser Frischling ist wieder da«, rief Donne. »Sie kann einfach nicht von unserem trajet lassen.«
»Friss mich doch«, fauchte ich zurück. »Für so einen Mist habe ich heute keine Geduld.«
»Würde ich ja gern, aber wer weiß, ob du schmeckst?« gab Donne zurück, worauf Anton in albernes Gelächter ausbrach.
»Guten Abend, Emma«, grüßte Lena.
»Ich muss dich etwas Wichtiges fragen«, sprach ich sie sofort an. »Deine Geschichte über Valentin – du hast erwähnt, dass er dir einmal erschienen ist, ohne körperlich anwesend zu sein. Das Wort begann mit ›LE‹.«
» L’essentiel «, antwortete Lena. »Ist das das Wort, nach dem du suchst? So nennen wir das Wesentliche.«
»Ja, genau das ist es. Ich muss unbedingt mehr darüber wissen … Wie geschieht das?«
Donne schnaubte verächtlich. »Ist das alles?«
Lena hingegen lächelte und reagierte wie immer zuvorkommend. »Das Wissen über l’essentiel eignet man sich mit der Zeit an. Dafür braucht man Geduld.«
»Und wenn ich es sofort wissen muss? Könntet ihr mir nicht eine Kurzfassung geben?«
Sie sah mich verständnisvoll an. »Gut, am besten beginnen wir mit dem champ. «
» Champ , das ist natürlich auch Französisch, oder?« Ich setzte mich neben sie. »Und es heißt so etwas wie ›Feld‹, glaube ich.«
»Stimmt«, bestätigte Lena. »Aber es hat nichts mit einem Kornfeld zu tun …« Sie blickte zu Anton hinüber. »Du kannst es besser erklären.«
Anton hüpfte von der Mauer und zeichnete mit dem Zeigefinger ein Strichmännchen in den Sand. »Hier, Emma, sagen wir, das bist du, okay?«
»Gut.«
Dann zog er einen Kreis um das Strichmännchen herum. »Dieser Kreis ist dein champ . Eigentlich ist es kein Kreis, denn es ist überall, verstehst du?«
»Überall um mich herum?«
»Sogar noch mehr. Um dich herum, in dir, durch dich hindurch …«
»Das champ ist also eine Art … unsichtbare Kraft, die überall um mich herum ist, in mir und so weiter?«
Anton schnippte mit den Fingern. »Genau! Nur dass eine ›Kraft‹ auf etwas anderes wirkt. Sie agiert. Das champ hingegen ist einfach da. Verstehst du? Es tut nichts, es ist einfach da. Die ganze Zeit. Egal, wohin du gehst. Dein champ , meins, Donnes, Lenas und so weiter und so fort.«
»Was ist mit den perdus? «, fragte ich.
»Die natürlich auch«, bestätigte Anton. »Alles hat ein champ , sogar Steine.« Er klopfte auf den Bären. »Es gibt unzählige verschiedene champs , die alle zusammen ein einziges großes champ darstellen. Ich erkläre es dir. Dein champ ist gleichzeitig alle champs zusammen, okay? Sie sind verbunden und bilden ein riesiges champ , das alles umfasst und alles abdeckt.«
»Wir sind also alle ein Teil dieses gigantischen champs. «
»Ja und nein«, antwortete Anton. »Jeder Teil enthält auch das Ganze. In jedem der kleinen champs ist eine … Abbildung … des Ganzen.«
»Klingt wie ein Hologramm«, sagte ich, weil ich mich daran erinnerte, dass wir über so etwas vor Kurzem in Physik gesprochen hatten.
»Ein was?«
»Ein Hologramm ist eine Art Bild, das man in kleinere Bilder zerschneiden kann, wobei das Gesamtbild immer erhalten bleibt. Egal, wie klein man es schneidet.«
»Genau so ist es!«, rief Anton. »Gefällt mir. Ein Hologramm. Das muss ich mir merken. Alle champs sind also verbunden und bilden ein großes champ , sodass unser Handeln durch alle champs hindurch wirkt. Sobald du ein Gefühl dafür bekommst, spürst du, dass sich jemand nähert. Ihr champ kündigt sich durch Schwingungen an.«
»Wie Spidermans Spinnensinn«, sagte ich.
»Hä?« Mit Spiderman konnte er offenbar nichts anfangen.
»Egal.«
»Wir kommunizieren auch damit. Das champ ist wie ein Telefonkabel. Man kann mit seiner Hilfe sprechen, wenn man weiß, wie.« Antons Augen blitzten. »Aber das champ bedeutet auch Gesundheit! Wenn du dafür sorgst, dass es im Lot
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