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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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für mich öffnen, Mademoiselle? Damit ich mir einen Überblick verschaffen kann, was darin ist?« Er lachte, und es klang wie rollende Steine. »Das hätte ich gar nicht gedacht.«
    Plötzlich lehnte sich der Vampir über den Tisch und ich sah die fleischige Wunde an seinem Kopf direkt vor mir. Mir stockte der Atem. Ich wusste, dass er nicht körperlich anwesend war, aber es fühlte sich doch so an.
    »Und was tust du hier?« Er richtete sich auf und ich begann wieder zu atmen. »Ein … Zimmer«, stellte der Vampir fest. »Sehr sachlich. Alt. Keine décoration . Ich würde sagen, irgendwo in einem … Bürogebäude? Liege ich damit richtig? Eine abgewickelte Firma in Huntsville, Alabama, wo du dich versteckt hältst. Mit Tüten von … lass mich mal sehen, was ist das … United Outfitters und Outdoorwelt . Interessant.«
    Dann erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit: Mandas Bild, das auf dem Tisch lag.
    Nein, schrie ich innerlich. Lass sie in Ruhe. Ich bringe dich um.
    Lange betrachtete der Vampir das Foto und lächelte dabei. Schließlich entfernte er sich von dem Tisch und setzte sich in die Luft. Wo auch immer er sich physisch aufhielt, musste an der Stelle ein Sitzmöbel stehen.
    »Ich möchte dir eine Geschichte erzählen, Mademoiselle. Eine Geschichte über attachement  – über Zugehörigkeit. Eines der ersten Kinder, das ich je … verwandelt habe, war ein junges Mädchen namens Ava. Sie erhörte meinen Ruf, obwohl ich zu der Zeit selbst noch nicht genau wusste, wie das funktionierte. Ich war selbst dort hineingerutscht. Meine Fähigkeiten waren ungelenk, rudimentaire . Ava kam dennoch. Ich nahm sie mit auf ihre erste chasse de sang . Wir verbrachten die Tage gemeinsam unter der Erde. Zeit hatte für uns keine Bedeutung mehr. Alles, was zählte, war, dass ich die Zeit mit ihr verbringen konnte.
    Eines Nachts wachte ich auf und Ava war verschwunden. Es war mir vollkommen unbegreiflich. Hatte jemand sie gestohlen? Auf meinen Ruf reagierte sie nicht mehr.
    Jahrelang suchte ich nach ihr, aber ich war zu inexpérimenté , zu unerfahren, um sie zu finden. Jahrzehnte vergingen. Ich zeugte viele neue Kinder, bis ich dessen überdrüssig wurde. Ich wollte nur noch allein sein. Um mich selbst zu finden, zog ich mich an einen Ort im Gebirge zurück. Ich habe die Berge immer gemocht, weil man dort abgeschieden von allem anderen sein konnte. Das behagte mir.«
    Der Gesichtsausdruck des Vampirs veränderte sich, doch ich konnte ihn nicht deuten.
    »Eines Frühlings traf ich Ava durch einen großen Zufall wieder. Sie stand an einer alten Fährstation am Fluss Neuse und blickte auf das Wasser, als würde sie auf jemanden warten. Ich betrachtete sie. Ihr goldenes Haar, ihre adolescence , ihre Jugend.Und dabei fühlte ich etwas, was ich seit langer Zeit nicht mehr gefühlt hatte. Ava erkannte mich sofort und rief überrascht meinen Namen, als wir aufeinander zueilten. Wir fielen uns in die Arme. Ich drückte sie fest an mich. So, weißt du?« Der Vampir kreuzte die Arme vor seiner breiten Brust und umschlang sich selbst. »Ich wollte sie nie mehr gehen lassen. Immer kräftiger drückte ich sie.«
    Der Vampir umschlang sich fester, bis sein Gesicht rot wurde und er vor Anstrengung das Gesicht verzog.
    »Ihre Augen weiteten sich, weil ich so sehr drückte. Bis schließlich … ihre Knochen knackten …«
    Der Vampir lockerte den Griff um sich selbst und ließ die langen Arme sinken. Dann holte er mehrfach tief Luft und starrte auf den Boden.
    »Um dir das zu erzählen, bin ich heute Nacht gekommen«, sagte er. »Um dir diese Erinnerung zu schenken. Mir geht es einzig und allein um Zugehörigkeit.«
    Moreau erhob sich von dem unsichtbaren Stuhl. Langsam wich ihm die Farbe wieder aus dem Gesicht.
    » À toute à l’heure. «
    Er verschwand in der Dunkelheit.
    À toute à l’heure . Ich wusste, was das hieß. Mein Großvater sagte es dauernd.
    Bis später.
    Die Anwesenheit des Vampirs hallte in dem Raum noch nach. Deshalb kletterte ich schnell aufs Dach und ließ mich auf die Luftmatratze fallen, nicht ohne nach der Axt zu tasten. Dieses Mal war Moreau so leicht zu mir durchgedrungen. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich einen Anfall bekam. Bedeutete das, er war näher gekommen? Zumindest hatte er keine neuen Hinweise bekommen.
    Oh nein. Die Tüten. Der Vampir hatte die Tüten aus dem Shoppingcenter gesehen, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Die Schlinge zieht sich zu.
    Abermals lag ich schlaflos da,

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