Verletzlich
ich in die Dunkelheit fließen und im Boden verschwinden.
So sehr hatte ich mich an das Geräusch des Wassers gewöhnt, dass ich mich wie taub fühlte, als es plötzlich verstummte. Reglos blieb ich mit angezogenen Beinen auf der Seite liegen. Das eine Ohr lag nach wie vor im Wasser.
Er kniete neben mir und schob die Arme unter meinen Rücken. Als er mich hochhob und mich an sich drückte, hing mein Körper schlaff vor seiner Brust. Wir sprachen nicht. Lange Zeit hielt er mich einfach fest. Das Gefühl war neu für mich – dass mich jemand ohne Kleidung festhielt. Ich war überrascht, wie es sich anfühlte. Ich hätte geglaubt, dass ich mich schämen würde und verlegen wäre. Doch so war es nicht. Ich sank einfach in ihn hinein, genauso wie ich ins Wasser hatte sinken wollen.
»Heißt das, du willst mich nicht verlassen?«, fragte ich.
Lange nachdem ich mich wieder angezogen hatte und der Großteil des Wassers abgeflossen oder eingesickert war, saßen wir vor dem Bunker mit dem Rücken gegen die Betonmauer gelehnt. Ich griff nach seiner Hand.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich.
»Du bist schließlich nicht unsichtbar. Ich bin einfach in den Wald marschiert und immer weiter gegangen. Ich hatte dich in die Richtung verschwinden sehen, aus der du sonst immer gekommen bist. Wie gesagt, den alten Prüfstand kennen nicht mehr viele Leute. Darum habe ich vermutet, dass du dich dort versteckst.«
»Ich entschuldige mich … ich entschuldige mich für das, was ich gesagt habe. Es war nicht so gemeint. Ich weiß nicht, warum ich es getan habe. Ich glaube … vielleicht habe ich es als Entschuldigung benutzt, damit du dich von mir abwendest. Denn ich hatte Angst, Sagan. Und dafür gibt es so viele Gründe. Wenn du alles wüsstest …«
Er drückte meine Hand. »Ich werde alles erfahren, weil du mir alles erzählen wirst. Von Anfang an. So viel von dem, was ich glaubte zu wissen, entpuppte sich als Luftnummer, als ich gesehen habe, wie du das Gebäude raufgesaust bist.«
»Du fragst dich, was ich bin.«
Sagan lächelte. »Du bist also nicht aus irgendeinem geheimen Staatslabor geflohen? Wie im Film?«
»Ganz und gar nicht. Aber wenn sie je davon Wind bekämen …«
»Würde ich dich nie wiedersehen, habe ich Recht?«
»Wahrscheinlich.«
»Bist du so geboren worden?«
Ich senkte den Kopf und starrte zu Boden. »Sagan, ich muss … ich muss dir etwas sagen. Und du musst es mir glauben. Du wirst es mir nicht glauben, aber du musst. Denn wenn du es nicht tust, dann war’s das. Ich wüsste nicht, was ich dann tun soll. Aber selbst mit dieser Warnung wirst du es nicht glauben.«
»Echt? Ist es so schlimm?«
»Es ist so … unglaublich. Ich kann kaum fassen, dass ich es dir überhaupt erzähle. Ich habe keine Ahnung, wie du reagieren wirst.«
Er verzog das Gesicht. »He, traust du mir denn gar nichts zu?«
»Aber … es geht um mehr. Nicht nur darum, was ich zu tun imstande bin. Das ist noch nicht das Seltsamste. Das Seltsamste ist, was ich bin.«
»Mein Gott, was ist es denn nun? Bist du radioaktiv? Von einem anderen Planeten? Oder … warte mal … du wurdest mit Gammastrahlen bombardiert und …«
»Hör auf. Hör einfach auf. Es fällt mir schwer.« Mein Kopf war plötzlich vollkommen leer. »Gut, ich sage es jetzt einfach.«
»Okay, ich bin da und ich gehe nirgendwo hin. Versprochen. Du kannst mir erzählen, dass du vom Mittelpunkt der Erde kommst, die Vorhut einer Rasse Supergirls, die wild dazu entschlossen ist, die Welt zu beherrschen. Ein Shoppingcenter nach dem anderen …«
»Bleib ernsthaft oder ich sage kein Wort.«
»Gut, dann ernsthaft. Kann ich auch. Vorhin am Observatorium habe ich dir den Beweis geliefert.«
»Nein, das meine ich wirklich. Ich bringe dich um, wenn du das, was ich dir jetzt sage, nicht ernst nimmst. Es geht um mein Leben. Erfinden würde ich so etwas nicht.«
»Schon gut. Jetzt erlös mich endlich.«
Ich holte sehr tief Luft … hielt sie eine Weile in meinen Lungen … und blies sie dann langsam aus. Ich musste es ein zweites Mal tun. Dann schloss ich die Augen. Sag’s einfach.
»Sagan … ich bin ein Vampir.«
22
Lichtung
Sein Gesicht zu beobachten war interessant. Ich fragte mich, ob er der Erste war – der erste Mensch, meine ich –, der je mit so etwas konfrontiert worden war. Sein Mund stand offen – und blieb offen. Er sagte kein Wort. Sah nicht einmal so aus, als wollte er etwas sagen.
»Verstehst du jetzt, warum ich die ganze
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