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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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frühstücken.«
    »Danke.«
    Dennoch durch die Tür zu stürmen und damit den Sicherheitsdienst zu alarmieren, schien mir keine gute Idee zu sein. Deshalb erkundigte ich mich nach der Tiefgarage und entdeckte auf halbem Wege einen Personalaufzug – einen dieser geräumigen Fahrstühle, in denen Leute auf Rollbahren transportiert wurden. Ich drückte auf den Knopf für dritten Stock.
    Als die Tür aufging, sah ich vor mir einen langen Gang und direkt gegenüber ein leeres Wartezimmer mit Getränkeautomaten, Plastikstühlen und einem laufenden Fernseher, für den sich niemand interessierte. Die Nummerierung der Zimmer war unlogisch. Zwei Mal musste ich kehrtmachen, bevor ich schließlich die richtige Tür erblickte: 332.
    Sie stand offen. In der Ecke leuchtete ein sanftes Licht. Mein Herz klopfte schneller … Mein Großvater sah so schmal aus. Bis unter die Achselhöhlen war er mit einer dünnen Decke zugedeckt. Ich konnte kaum erkennen, wie sich seine Brust hob und senkte. Er hatte einen Plastikschlauch in der Nase. Die Augen waren geschlossen.
    Auf einer Seite stand ein leise piepsender Monitor, der anscheinend Herzfrequenz und so weiter aufzeichnete. Was auch immer er tat, es war rhythmisch, was mir fast mehr Angst machte, als wenn er wild ausschlagen würde. Hirntod . Der Gedanke war unerträglich. Aber die Kurve meines Großvaters bewegte sich auf und ab, wenn auch nur schwach. An einem Metallständer hing ein länglicher Beutel, der wie eine Ziehharmonika aussah und sich regelmäßig auf- und zuzog. Der Raum roch nach alten Leuten und Desinfektionsmittel.
    Ich trat an sein Bett. Sein Mund war leicht geöffnet und ich konnte die schiefen Zähne und die Spitze seiner weißlichen Zunge sehen. Die Arme lagen auf der Decke gerade neben seinem Körper wie … wie in einem Sarg.
    Wahrscheinlich machte mich das alles so fertig, weil ich zu viele schlechte Krankenhausserien im Fernsehen gesehen hatte. Ich wusste gerade genug, um mir die schlimmsten Szenarien ausmalen zu können.
    Ich nahm seine Hand; die Finger waren kalt.
    Sollte ich ihn wecken? Ich war mir nicht einmal sicher, ob er schlief. Drähte führten von einer Maschine bis unter seinen Krankenhauskittel, mitten durch die krausen, grauen Haare auf seiner Brust. Hatte er abgenommen? Ich sah ihn noch als Mann mit breitem Oberkörper vor mir, doch jetzt wirkte er fast ausgemergelt.
    »Papi?«, sagte ich leise und fragte mich, ob er wach genug war, um mich zu hören …
    Ich berührte seinen Arm und rüttelte vorsichtig daran. »Papi, kannst du mich hören?«
    Lange blieb ich auf der Bettkante sitzen und lauschte den unheimlichen Geräuschen in dem Raum: dem regelmäßigen leisen Piepen des Überwachungsgeräts, dem Klopfen des Regens auf die Scheibe, dem »Atmen« des kleinen Ziehharmonika-Beutels. Schon immer habe ich Krankenhäuser gehasst.
    Plötzlich merkte ich, wie er sich rührte und langsam hochkam, wobei er den Widerstand all der Dinge zu spüren bekam, an die er angeschlossen war.
    » Ma petite-fille … «
    »Papi, oh Papi!« Schluchzend warf ich mich in seine Arme. Einen Moment hielt er mich so behutsam wie ein Baby. Seine Hände zitterten, als er sie aufs Bett zurücksinken ließ.
    »Weinst du etwa?«, fragte er. Seine Stimme klang ein wenig krächzend.
    Schniefend wischte ich mir über die Augen. »Nein, ich weine nicht.«
    »Eh, einen alten Wolf wie mich kannst du nicht täuschen«, sagte er lächelnd, hob einen Arm und schwenkte ihn mit Mühe hin und her. »Das macht diese Atmosphäre hier. Man hat das Gefühl, sich in Richtung Ausgang zu bewegen. Exactement , das werde ich tun. Ich gehe durch den Ausgang schnurstracks … zu meinen Tomatenpflanzen. Und der Mais wächst in diesem Jahr auch wie verrückt. Das solltest du sehen. Viel Regen dieses Frühjahr.«
    Ich blickte zum Fenster. »Im Moment regnet es auch, Papi.«
    Doch er schaute nicht hin, weil er seine Augen auf mich gerichtet hielt. »Es ist so gut, dich zu sehen.« Er klang plötzlich ernst. »Sag mir, wo bist du gewesen? Warum warst du fort?«
    »Bitte … bitte frag mich das nicht. Mit mir ist alles in Ordnung … und du kümmerst dich erst einmal darum, dass du wieder gesund wirst? Okay? Was ist los mit dir? Was haben sie gesagt? Du wirst doch wieder gesund, oder?«
    Papi versuchte zu schnauben und bekam stattdessen einen Hustenanfall. »Ich habe mich im Garten gebückt«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, »weil ich den Wasserhahn anstellen wollte, weißt du, den bei der

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