Verletzlich
Wäscheleine? Mon dieu , und dann fühlte es sich plötzlich an, als hätte ein Elefant sich auf meine Brust gesetzt.«
»Aber … die Ärzte, was haben sie gesagt?«
»Ach, die Ärzte.« Mein Großvater gab ein angewidertes Geräusch von sich. »Was können sie dir schon sagen?« Er versuchte sich mit einer Hand auf die Brust zu fassen, ließ sie dann aber wieder sinken und nahm die andere Hand, weil an der ersten zu viele Drähte hingen. »Woher sollen sie wissen, was hier drinnen vor sich geht? Nein, was sie sagen, ist nicht wichtig.«
»Oh doch«, sagte ich. »So darfst du nicht denken. Du darfst nicht …«
Ich konnte den Satz nicht beenden. Ich konnte nicht sagen: »Du darfst nicht sterben.«
»Ein Mann … ein junger Mann hat dir das angetan, oder? Hat dir den Kopf verdreht?«
»Nein, Papi. Das ist es nicht. Ich nehme keine Drogen. Es ist nichts in dieser Richtung. Nichts, weswegen du dich schlecht fühlen müsstest. Ich musste nur für eine Weile fort.«
»Deine Mutter … weißt du, wie weh du deiner Mutter tust?«
Wieder musste ich heulen, so sehr, dass meine Schultern bebten.
»He … he …, meine Große. Ist ja schon gut. Was auch immer es ist, wer auch immer ma petite-fille in seinen Fängen hat, du wirst ihn oder es besiegen, das weißt du!«
Ich versuchte zu sprechen, brachte aber noch immer nur ein Schluchzen hervor. Schließlich hob ich den Kopf. »Papi, es tut mir so leid. Ich konnte nichts dafür, dass ich weg musste. Mir blieb nichts anderes übrig.«
Er tätschelte meine Hand. »Es gibt immer andere Möglichkeiten. Du hast deine famille völlig im Regen stehen lassen. Deine Mutter …«
»Ich weiß, ich weiß …«
»Du sprichst mit ihr? Du gehst zu ihr und redest mit ihr.« Er hustete abermals. »Und du … du musst wieder zur Schule, ma petite-fille .«
»Ich weiß, Papi, ich weiß. Ich hoffe, dass es bald wieder möglich ist. Ich tue mein Bestes.«
Er schloss die Augen und wirkte plötzlich schläfrig.
»Papi, Papi? Brauchst du etwas? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich bin nur müde. Diese Leute hier geben mir alles Mögliche.«
Ich beugte mich über ihn und küsste ihn auf die Wange. Er machte eine abschätzige Handbewegung und verzog das Gesicht.
»Nicht, ich muss mich erst rasieren.« Dann döste er mit flatternden Augenlidern ein, nachdem er noch etwas gesagt hatte, was ich nicht verstehen konnte. Ich beugte mich weiter hinunter.
»Was? Was hast du gesagt, Papi?«
Er flüsterte: »Du weißt, dass du immer mein … meine combattante sein wirst.«
Seine Kämpferin.
Im Eingangsbereich stand ein Telefon zur allgemeinen Benutzung. Von dort rief ich im Blue Onion an und hinterließ eine Nachricht für meine Mutter.
Den ganzen Weg aus dem Krankenhaus heraus heulte ich wie ein kleines Baby.
Er war immer so stark gewesen. Ihn dort liegen zu sehen, so elend, im Innersten verletzt, brachte mich fast um. Das geschieht, wenn man jemandem etwas antut, den man liebt , dachte ich. Man verletzt ihn im Innersten.
Als ich wieder auf der Straße stand, regnete es stärker. Der Gehsteig glänzte und das rötliche Licht der Straßenlaternen spiegelte sich darin. Ich rannte los, so schnell, dass das Wasser aufspritzte.
Sagans Jeep stand noch vor dem Solarobservatorium und in der Cafeteria brannte Licht. Meine Schuhe machten ein quatschendes Geräusch, als ich mich dem Eingang näherte.
Ich wühlte in meiner Tasche nach dem Funkgerät, schaltete es ein und drückte auf den Knopf, mit dem man sich meldete.
»Emma …« Das Rauschen, als Sagan antwortete, war so laut, dass ich nicht verstehen konnte, was er weiter sagte.
»He, ich bin wieder da. Lässt du mich rein?«
Wieder ein Rauschen. Die ganze komplizierte Elektronik in der Kuppel störte offenbar die Frequenz. Abermals drückte ich auf den Knopf.
»He, hörst du mich? Ich bin hier draußen. Lass mich rein. Ich bin gerannt wie der Teufel und würde mich gern hinsetzen.«
Nach einer Weile sah ich Sagan auf die Schleuse zueilen. Er stieß die innere Tür auf und griff auch nach der äußeren, rief dann aber etwas durch die Scheibe. Im Lippenlesen bin ich noch nie gut gewesen.
»Was?«
Er schob die Tür einen Spalt auf – nicht, um sie für mich zu öffnen, sondern um mir etwas zu sagen.
»Lauf!«, zischte er
»Hä?«
»Lauf, Emma, lauf!«
29
Alarm
Einen Moment stand ich wie gelähmt da und sah ihn an.
»Lauf! Lauf!«
Ich griff nach der Tür und riss sie Sagan dabei fast aus der Hand. Er stolperte auf den
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