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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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gekämmt.
    Nachdem er Manda abgesetzt hatte, wandte er sich mir zu. Dabei berührte er mit dem Zeigefinger die linke Schläfe, was er immer tat, wenn er über etwas grübelte.
    »Bei dir ist es allerdings anders«, stellte er fest und führte uns für einen Imbiss in die Küche. »Sag nichts. Ich möchte es selbst herausfinden, ma petite-fille .«
    »Petite-fille« ist das französische Wort für »Enkelin«. Er nannte mich keineswegs so, weil es so süß klang – »süß« lag meinem Großvater nicht – sondern, um mich daran zu erinnern, wer meine Vorfahren waren. Papi war von Kopf bis Fuß Bretone. Er stammte aus der Bretagne, dem windigen Nordwestzipfel Frankreichs, wo die Menschen nach Aussage meines Großvaters ein wenig eigen waren. Das traf sicher auch auf ihn zu. Er war sehr von sich überzeugt, dabei aber praktisch veranlagt, ehrlich und liebenswürdig. Bei ihm ging das zusammen. Ich liebte ihn mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt. Manda ausgenommen, natürlich. Meine Großmutter war vor so langer Zeit gestorben, dass ich mich kaum mehr an sie erinnern konnte. Mein Großvater hingegen war mein Ein und Alles.
    In der Küche roch es nach Äpfeln. »Aber du bist krank gewesen, habe ich gehört«, begann er, als wir uns zu Käse, Baguette und Cidre niederließen, den er aus den Früchten der Bäume in seinem Garten herstellte. Er hatte eine eigene Apfelpresse in der Garage.
    »Jetzt geht es mir aber wieder gut«, beruhigte ich ihn. Eine Jahrhundertlüge. Genau wie mein Großvater war ich eigentlich komplett gegen Lügen.
    »Aber das ist es nicht, weshalb du anders bist«, fuhr er fort. »Bis nach dem Abendessen weiß ich es.« Er lächelte breit und dabei schoben sich seine buschigen Augenbrauen zusammen.
    Den Nachmittag verbrachten wir im Garten. Manda wich unserem Großvater nicht von der Seite. Wie eine Katze strich sie ihm um die Beine und ich fragte mich, ob ich je die Gelegenheit bekäme, mit ihm allein zu sein. Ich hoffte, dass ich in dem Moment nicht kneifen würde.
    Abends grillten wir in dem schräg abfallenden Vorgarten. Auf dem kleinen Grundstück war nicht ein Stück gerade, aber das Gras war so schön geschnitten wie auf einem Golfplatz. Die Garage war genauso ordentlich. Ein hölzernes Ruderboot und die Angelausrüstung hingen über dem alten Buick.
    Die T-förmigen Stangen mit den Wäscheleinen, auf denen meine Großmutter früher die Wäsche zum Trocknen aufgehängt hatte, gab es immer noch – die einzige wirkliche Erinnerung, die ich an sie hatte, war, wie sie dort zwischen Laken stand, die sich im Wind blähten, und hölzerne Klammern an der Leine befestigte. Durch das Küchenfenster hatte man gehört, wie mein Großvater mit bellender Stimme Sur le pont d’Avignon gesungen hatte. »Hör auf, dieses alberne Lied zu singen!«, hatte meine Großmutter geschimpft. Ihr Mann hatte ihr daraufhin einen Klaps auf den Allerwertesten gegeben, als sie das Haus betreten hatte.
    Mein Großvater war ein Steinmetz der alten Schule. Das Haus hatte er selbst aus Natursteinen gebaut. Auf den ersten Blick würde man ihn nicht für gebildet halten. Mom hatte mir erzählt, dass er nur acht Jahre zur Schule gegangen war, weil er danach für seine Familie Geld verdienen musste. Doch dieser Eindruck täuschte.
    Das Haus hatte fünf Zimmer und ein Badezimmer, doch es war voller Bücher, ausnahmslos über geschichtliche Themen. Ich wusste genau, was er sagen würde, wenn ich ihn fragte, ob er an Vampire glaubte. Papi glaubte an Verbrennungsmotoren, Oberflächenköder und Helden wie Neil Armstrong. Aber an blutsaugende Monster? Vergiss es.
    »Also«, begann Papi, stellte seinen leeren Teller ab, verengte den Blick und sah mich an. »Irgendetwas stimmt nicht, das weiß ich, ma petite-fille . Willst du darüber reden? Frag deine Mutter, eigentlich bin ich kein guter Zuhörer, aber dir höre ich zu.«
    Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Ich erzählte ihm alles Mögliche, nur das, was mich wirklich beschäftigte, erwähnte ich mit keiner Silbe. Er merkte, dass ich um den heißen Brei herumredete, sagte aber nichts. Das war eine seiner besten Eigenschaften. Im Gegensatz zu meiner Mutter musste er andere Leute nicht penetrant kontrollieren.
    Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Wir hatten Manda ins Bett gebracht und es uns wie immer im Wohnzimmer bequem gemacht. Jetzt oder nie.
    »Papi, glaubst du … was hältst du von … übersinnlichen Dingen?«, fragte ich ihn.
    Seine Augenbrauen schossen

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