Verletzlich
in die Höhe. »Religion? Ich bin überrascht, dass du mich danach fragst. Dazu hättest du deine Großmutter befragen müssen.«
»Nein, nicht Religion, Papi. So allgemein halt.«
»So allgemein?«
»Na ja, Dinge, die man … die man nicht versteht, die nicht zu verstehen sind. Unerklärlich sind.«
»Könntest du mir vielleicht ein kleines Beispiel nennen, ma petite-fille? « Jetzt wollte er mich wieder an meine Vorfahren erinnern.
»Was ist … was ist mit Vampiren?«
Während ich die Worte aussprach, zog sich alles in mir zusammen. Mein Großvater konnte ziemlich erbarmungslos sein, wenn er jemandem zu verstehen geben wollte, wie dumm er war. Doch damit konnte ich umgehen. Ich war bereit.
Überraschenderweise legte mein Großvater nur einen Finger an die Lippen und ging durch den Flur in den kleinen Raum, der das Schlafzimmer meiner Großmutter gewesen war. Dort schlief Manda jetzt. Gemeinsam schauten wir nach ihr. Sie hatte ihre Decke abgestrampelt und schlummerte tief und fest. Ich folgte Papi zurück ins Wohnzimmer, wo er uns Cidre nachschenkte und sich dann wieder in seinem Lehnstuhl niederließ. Ich wusste, dass ich jetzt eine seiner Geschichten zu hören bekommen würde.
»Davon habe ich dir noch nie erzählt. Im Dorf meines Großvaters gab es einen Mann, mit dem er in jungen Jahren gut befreundet gewesen war. Und dieser gute Freund hatte einen älteren Bruder namens Didier. Didier war Steinmetz – und er hat Selbstmord begangen. Der Grund war wohl eine nicht erwiderte Liebe. Meinem Großvater wurde erzählt, dass dieser Didier drei Tage nach seinem Tod wegen seines Selbstmords zu einem fantôme geworden war. Zu einem Vampir. Er hat sein Totenhemd verschlungen und dann begonnen die benachbarten Leichname aufzufressen. Die Leute bemerkten die geschändeten Gräber und legten den Toten Lehm unters Kinn oder Münzen auf die Zunge, um dem vorzubeugen.«
Ich bekam eine Gänsehaut, während mein Großvater weitererzählte.
»Sobald Didier die Gebeine der um ihn herum Begrabenen verschlungen hatte, begann er nachts im Dorf herumzustreunen und Blut zu trinken. Er übte an Schweineblut und arbeitete sich dann zu Menschen hoch. Im Dorf herrschte Panik und alle Türen wurden mit ail eingerieben.«
»Mit ail? «
»Knoblauch. Irgendwann wurde er identifiziert und eine Gruppe aus dem Dorf machte sich auf den Weg zum Friedhof, um dem toten Didier den Kopf abzuschneiden und ihn durch den Mund auf dem Boden festzunageln. Als sie den Sarg öffneten, lag Didier in einer Blutlache. Er war so gierig gewesen, dass er die Menge an Blut, die er zu sich genommen hatte, gar nicht hatte bei sich behalten können.«
Blinzelnd saß ich Großvater gegenüber und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Mann, Papi. Das ist ja echt übel.«
» Oui . Und warum fragst du nach so etwas?«
»Ich … habe nur darüber nachgedacht. Über solche Sachen. Hast du die Geschichte geglaubt? Als dein Großvater sie dir erzählt hat?«
»Ich glaube, dass er seinem Freund geglaubt hat.«
»Aber du, was glaubst du?«
Mein Großvater schnaubte verächtlich und schlug mit der Hand auf die Sessellehne. »Vollkommener Blödsinn. Die Leute sind … wie sagt man … crédule . Leichtgläubig. Sie glauben, was sie glauben wollen. Wenn man in die Geschichte zurückschaut, ist es immer so gewesen. Das ist ein Grund, warum sie so interessant ist. Die Zeiten ändern sich, die Menschen aber nicht.« Er lächelte. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Du entscheidest selbst, was du mir erzählst. Ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich es wohl bemerkt habe.«
Wir sahen uns lange an. Beim gegenseitigen In-die-Augen-Schauen konnte niemand meinen Großvater schlagen. Irgendwann blinzelte ich.
»Papi, noch etwas anderes … ich wollte dich fragen, ob du etwas für mich übersetzen könntest.«
Ich zog ein Stück Papier aus der Tasche, auf dem ich mir die Worte des Mannes in dem dunklen Mantel aufgeschrieben hatte, und versuchte sie so gut wie möglich nachzusprechen.
Mein Großvater runzelte die Stirn. »Das sagt mir nichts. Kann es sein, dass du die Worte nicht ganz richtig aussprichst? Soll es vielleicht heißen: Donnez-moi votre vie? «
»Ja, genau. Das ist es!«
Der Blick meines Großvaters verfinsterte sich weiter. Er klappte die Fußstütze seines Sessels hinunter, setzte sich auf und sah mich eindringlich an. »Wo hast du das gehört? Ma petite-fille , hat das jemand zu dir gesagt? Erzähl’s mir.«
»Ach, das ist nicht
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