Verletzlich
war ich nicht vorbereitet. »Ich denke ehrlich gesagt nicht allzu oft an ihn.« Ich überlegte, ob das der Wahrheit entsprach, dachte einen Moment darüber nach und entschied, dass es so war. Seit dem Überfall war er mir nicht oft in den Sinn gekommen.
»Wünschst du dir manchmal ihn sehen zu können?«
»Früher war das so.«
»Warum? Vermisst du ihn?«
»Ich hätte ihm gern einige Fragen gestellt.«
»Was denn zum Beispiel? Warum er gegangen ist?«
»Ich weiß, warum er gegangen ist.«
Meine Mutter holte mehr Teile zum Falten heraus. Es war schon spät, Manda war im Bett. Bei uns sammelte sich immer ziemlich viel Wäsche an, bevor wir uns darum kümmerten, deshalb waren jetzt überall im Raum kleine Stapel verteilt. Ich setzte mich dazwischen und begann Socken zu sortieren.
»Oh, willst du etwa helfen?«
»Hör auf, ich helfe öfter.«
»Ja, das tust du. Ab und zu jedenfalls. Weißt du wirklich, warum er gegangen ist?«
»Darüber will ich nicht sprechen.«
»Schon gut.«
»Für dich vielleicht.«
»Er hat jemanden kennengelernt. Das wusstest du doch, oder?«
»Ich habe wirklich keine Lust, darüber zu reden.«
»Es hatte nichts mit dir zu tun. Deine Epilepsie war nicht schuld daran. Es war halt nur … zur gleichen Zeit.«
»Ich bin nicht blöd, Mom.« Damals war mein Zustand desaströs gewesen und sie wusste das. Sie sollte es jedenfalls wissen. Eine Weile legten wir schweigend Wäsche.
»Ich glaube, er schämt sich«, begann meine Mutter erneut.
»Wer?«
»Dein Vater. Er schämt sich. Weil er das Familienidyll gesprengt hat.«
»Hasst du ihn?«
Sie schaute auf ihre Hände, während sie ein Hemd faltete. Dann nahm sie sich das nächste vor.
»Wenn man jemanden hasst, kommt man nicht weiter.«
»Auch wenn er es verdient?«
Ich suchte ihren Blick. Sie wischte sich mit einer von Mandas Socken übers Gesicht.
»Alles klar, Mom?«, erkundigte ich mich.
»Ich glaube, du solltest jetzt ins Bett gehen«, wisperte sie.
»Ich bin aber nicht müde.« Am liebsten hätte ich ihr über den Rücken gestrichen oder sie umarmt, aber Trösten lag mir nicht. Ich fand, es machte einen schwach. Zumindest berührte ich sie am Arm. »Mom?«
»Was?«
»Manchmal glaubt man an etwas, man fühlt sich vollkommen sicher und dann verändert sich alles. Plötzlich sieht deine Welt komplett anders aus und du musst ganz von vorn anfangen. Ich weiß, wie das ist.«
»Wegen deiner Epilepsie?«
Ich ließ sie in dem Glauben.
Später lag ich in meinem Bett und starrte an die Zimmerdecke. Mein Fenster war einen Spalt geöffnet und irgendwo in unserem Wohnblock hörte ich jemanden sagen: »Ich halte es nicht mehr aus, so zu leben.« Ich lauschte, wie sie auf und ab gingen – ein Mann und eine Frau in ihrer Küche. Nichts Superdramatisches, aber doch etwas, das niemand anders hätte hören sollen.
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, wusste ich, dass mein altes Leben zu Ende ging. Das war unausweichlich. Ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr die Tochter meiner Mutter. Nicht mehr die Tochter, die sie kannte.
Ich blickte auf die Uhr. 00:03. Ich starrte auf die Ziffern. Wandte den Blick nicht ab. Die Ziffern waren rot. Mir hat mal jemand erzählt, dass die besten Uhren rote Ziffern hätten, weil das Licht im Dunkeln sanfter sei als blaues. Das konnte ich nicht nachvollziehen. Blau waren Drosseleier, der sanfte Frühlingshimmel und friedliches Wasser. Wie konnte man Blau als unangenehmer empfinden als Rot? Rot war die Farbe von Krieg, Sonnenbrand, Warnlichtern. Und Blut.
Ich starrte noch immer, doch ich sah die Ziffern auf der Uhr nicht mehr wirklich. Ich sah sie zwar, aber es waren keine Ziffern mehr, nicht einmal mehr Licht. Sie waren zu einem farbigen Ding mit Ecken und Kanten geworden. Irgendetwas an der Form gefiel mir und ich starrte weiter darauf.
Bald darauf erlitt ich einen weiteren »kleinen« Anfall, auch wenn es mir zu dem Zeitpunkt natürlich nicht bewusst war. Dass man einen »kleinen« Anfall erst später als solchen erkennt, ist normal, meistens jedenfalls. Ich starrte einfach weiter auf die Ziffern der Uhr und fühlte mich immer besser.
Dann verschwand die Uhr und nur das gute Gefühl blieb übrig, während ich auf eine Stelle mitten im Dunkel starrte. Ich konnte genau sehen, dass dort nichts war als die Wand und mein Schrank. Doch dann geschah etwas vor der Wand. Statt ein weiteres Zeitfragment zu werden, das mir einfach verloren ging, bekam ich genau mit, was geschah.
Etwas begann
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