Verletzlich
wichtig. Was heißt es denn nun?«
»Es heißt«, sagte er. »Geben Sie mir Ihr Leben.«
Als ich an diesem Abend auf dem Klappbett neben Manda lag, konnte ich lange nicht einschlafen. Papi schnarchte so laut, dass man befürchten musste, das Haus würde zerbersten. Deshalb hatte meine Großmutter ein getrenntes Schlafzimmer haben wollen. Bisher hatte mich sein Sägen nie gestört. Im Gegenteil, es hatte mich immer beruhigt.
Doch heute konnte ich nicht aufhören an Didier, das fantôme, zu denken. So wie Papi die Geschichte erzählt hatte, klang sie wahr. Auch wenn er behauptete, sie sei Unsinn. Vielleicht ging mein Großvater so mit Dingen um, die er nicht verstehen konnte oder wollte.
Was wäre, wenn der Appetit auf Blut eine Veränderung wäre, die mir noch bevorstand? Was würde ich tun, wenn es dazu kam? Wie würde ich dann leben können? Konnte man als Vampir Selbstmord begehen?
Vor allem musste ich immer wieder an den Mann in dem dunklen Mantel denken, und daran, was er gesagt hatte. Anscheinend hatte er mich umbringen wollen. Doch irgendetwas musste ihn davon abgebracht haben. Mein Anfall? Das musste es sein. Ich vermutete, dass man bei einem Vampirangriff normalerweise stirbt. Aber weil ich überlebt hatte, war ich selbst zu einem …
Ich mochte nicht weiter darüber nachdenken und blickte zu Manda hinüber, deren blondes Haar auf dem Kissen ausgebreitet lag. Ihre kleine Hand hing über die Matratze und ein Bein zeigte in Richtung Fußboden. So klein .
Welche Chance hätte sie, wenn …
Würde ich mich beherrschen können? Würde ich überhaupt noch dazu in der Lage sein, wie ein Mensch zu denken, wenn es so weit war? Oder würde ich wie eine ausgehungerte Bestie um jeden Preis nach Blut gieren, um den schrecklichen Hunger zu stillen? Der Mann in dem dunklen Mantel … dieses Gesicht … ich wollte nicht akzeptieren, dass es je mein Gesicht sein könnte.
Letzten Endes erzählte ich meinem Großvater nichts. Ich brachte es einfach nicht fertig. Als wir am nächsten Morgen abfuhren, griff Papi plötzlich nach meinem Arm.
»Du hast abgenommen. Oui, c’est ça . Das ist es, was anders ist, glaube ich.«
Er hatte Recht. Wer hätte bei diesen Erlebnissen kein Gewicht verloren? Dennoch tat es gut, wenn es jemand bemerkte.
»Ist es das? Ich glaube ja«, vergewisserte er sich.
»Ja, das ist es, Papi.« Ich sah ihn an und versuchte herauszufinden, ob er mir damit nur den Druck nehmen wollte.
»Diese Augen kann man nicht täuschen«, rief er. »Namen kann ich mir nie merken, Gesichter dafür ewig. Das Erscheinungsbild, was für eine Persönlichkeit jemand hat, das weiß ich immer.«
Er drückte mich an sich und umarmte dann auch Manda, als meine Mutter auf den Kiesweg in der Einfahrt fuhr. »Du kannst mir alles sagen«, flüsterte er mir ins Ohr und es sah aus, als würde er mir einen Abschiedskuss geben. »Du bist furchtlos. Du bist meine combattante .«
So hatte er mich zuvor auch schon genannt. Plötzlich spürte ich Tränen in den Augen, denn dieses Wort kannte ich. Es bedeutet »Kämpferin«. Ich nahm Mandas Hand und lief mit ihr zum Auto.
Nach dem Wochenende bei meinem Großvater fühlte ich mich besser. Es gab keine neuen Veränderungen. Nach wie vor konnte ich hinaus in die Sonne gehen, ohne Schaden zu nehmen, und das Blutigste, worauf ich Hunger verspürte, war das Steak, das ich mir an meinem Geburtstag bestellen durfte. Steak gab es bei uns nur an Geburts- und Feiertagen.
Es ist interessant, wie schnell eine ungewöhnliche Situation zur neuen Normalität werden kann, wenn alles seinen Gang geht. In der Schule hatten sich inzwischen alle an meine Sonnenbrille gewöhnt, sogar ich selbst. Und ich schrieb bessere Noten, weil ich nicht mehr Fußball spielte und so viel Zeit zu Hause verbrachte, dass ich meine Bücher irgendwann aus Langeweile herausholte.
In letzter Zeit stritt ich mich auch nicht mehr mit meiner Mutter. Nicht ernstlich jedenfalls.
»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie eines Abends.
»Warum?«
»Ich fange langsam an zu glauben, dass du mich doch magst.«
»Mom.«
Sie saß im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Im Fernsehen lief ein alter, nicht sonderlich überzeugender Film – es ging um Kuba und Tanzen und einen dicken, hässlichen Sänger mit Geheimratsecken. Der Film wollte uns glauben machen, dass er all die hübschen Mädchen ins Schwärmen brachte.
»Vermisst du manchmal deinen Vater?«, fragte sie unvermittelt und blickte in den Wäschekorb vor sich.
Darauf
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