Verletzlich
verletztes Bein nach. Es war wohl das Mondlicht, das es mir ermöglichte die Straße zu sehen. Die spitzen Steine hätten mir an den Füßen wehtun müssen, doch ich hatte mich mit all meinen Gefühlen und meinem gesamten Schmerz in mein Inneres zurückgezogen. Danach ging ich einfach nur immer weiter.
Als ich schließlich Scheinwerfer erblickte, geriet ich in Panik. Offenbar sollte ich überleben. Er konnte also wiederkommen und abermals über mich herfallen. Seinen Job beenden.
Für den Rest der Woche ging ich nicht in die Schule. Es war nicht allzu schwer, meine Mutter davon zu überzeugen. Selbst als die körperlichen Symptome verschwunden waren, war mir noch immer übel. Ich fühlte mich auf eine Art und Weise krank, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich konnte es selbst nicht erklären. Mir war übel, weil ich das Unverdauliche zu verdauen versuchte.
Ich war von einem Vampir überfallen worden.
Benommen von zu viel Nachdenken und zu wenig Essen, ging ich in den endlos langsam vergehenden Stunden alle möglichen anderen Möglichkeiten durch, um mir zu erklären, was wohl mit mir geschehen war.
Hatte mir vielleicht jemand Drogen in mein Essen auf dem Fußballplatz gemischt? Hatte der erste Anfall mir vorübergehend den Verstand geraubt? War der Mann in dem dunklen Mantel nur ein normaler Psychopath? Ein Mensch aus Fleisch und Blut, nur eben nicht ganz zurechnungsfähig?
Doch welcher Psychopath wäre zu so etwas in der Lage gewesen? Wer verfügte in der realen Welt über so viel Kraft? Über eine solche Schnelligkeit? Über die übernatürliche Fähigkeit, in einem Baum auf den dünnsten Ästen zu stehen und nicht sofort hinunterzufallen?
Alle erdenklichen Szenarien spielte ich durch, nur um die beiden wahrscheinlichsten nicht allzu lange und genau in Erwägung ziehen zu müssen: Entweder gab es Vampire wirklich oder ich war geistesgestört.
Wenn Mom nach Hause kam, zog ich mir immer die Decke über die Ohren und tat so, als würde ich tief und fest schlafen. Manda ließ sich nicht so leicht abwimmeln, doch zumindest verstand sie, dass ich vorübergehend nicht funktionstüchtig war.
Am Ende des dritten Tages war ich endlich bereit, die Wahrheit zu akzeptieren.
Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte: Vampire gab es. Und ich war mir noch bei einer anderen Sache sicher: Der Überfall hatte einen schweren Anfall ausgelöst, noch während der Vampir trank. Die Ärzte in Atlanta hatten mir gesagt, dass ich an dem Tag zwei Anfälle gehabt hätte. Inzwischen war ich davon überzeugt, dass mich der Fluch in gewisser Hinsicht gerettet hat. Dennoch war ich verändert.
Verwandelt.
Das auch nur in Erwägung zu ziehen, kam mir krank vor. Vampir. Nicht einmal das Wort mochte ich aussprechen.
Doch etwas war in jener Nacht geschehen. All die Veränderungen waren nach dem Überfall aufgetreten: die seltsamen Farben in der Dunkelheit, das übermenschliche Sehvermögen, die Kraft, die Schnelligkeit, die Hörfähigkeit. Nur ein wichtiger Teil fehlte: nachts in einem langen Umhang loszuziehen und gierig Blut zu schlürfen.
Bei dem Gedanken, die Körperflüssigkeiten anderer Leute zu trinken, wurde mir sofort wieder übel. Ich hatte seit Tagen nur Thunfisch und Cheeseburger gegessen. Auch konnten Vampire normalerweise nicht bei Tageslicht ins Freie gehen, ohne zu sterben oder sich in Staub aufzulösen.
Was war ich also?
Zumindest wusste ich, dass ich nicht tot war. Nie hatte ich mich lebendiger gefühlt. Der Mann in dem dunklen Mantel war ebenfalls nicht tot gewesen. Zumindest hatte es nicht den Anschein gehabt. Abgesehen von dem Hautlappen am Kopf hatte er ganz und gar nicht wie ein wandelnder Leichnam ausgesehen. Immerhin hatte er mich zu Boden gezwungen und aus meinem Bein getrunken. Er war eindeutig ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen. Vielleicht handelte es sich um eine genetische Verirrung, ein außer Kontrolle geratenes wissenschaftliches Experiment oder sonst irgendetwas in der Art, aber ich war mir sicher, dass er ein lebendiger Mann gewesen war.
Ich versuchte mich an den französisch klingenden Satz zu erinnern, den er von sich gegeben hatte, bevor ich ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte. Donnez-moi votre vie. Nach Gehör tippte ich ihn bei Babel Fish ein. Ohne Erfolg. Ich würde meinen Großvater, meinen Papi, wie ich ihn nannte, danach fragen müssen, wenn ich ihn das nächste Mal sah.
Als ich mich wieder besser fühlte, verbrachte ich immer mehr Zeit damit, im Internet zum Thema Vampire
Weitere Kostenlose Bücher