Verletzlich
hatte, aber es kam aufs Gleiche heraus. Heute Abend gab es dort eine Familie ohne Mutter. Einen Mann ohne Frau. Jemand hatte seine Tochter verloren. Seine Schwester. Seine Freundin. Es war eine lange Kette, die in die Berge von Georgia zurückführte und direkt auf mich zeigte. Wegen meiner Wut hatte sie heute sterben müssen.
Nein.
So durfte ich nicht denken. Schließlich hatte ich Moreau nicht eingeladen, über mich herzufallen. Aber ich war selbst schuld daran, dass sich unsere Wege gekreuzt hatten.
Genauso sollst du denken, wenn es nach ihm geht. Scheißkerl.
Ich brauchte die Wut, wenn ich überleben wollte. So einfach würde er mich nicht kleinkriegen. Immerhin hatte ich gerade etwas gelernt und mir vielleicht einen kleinen Vorteil verschafft. Ich war in den Kopf eines anderen eingedrungen.
Kurz hatte ich erlebt, wie es war, ein Vollvampir zu sein. Doch es war mehr, als nur in seinem Körper zu sein, ich hatte auch seine Bedürfnisse gehabt, seine Wünsche – auch seine perversen Gedanken . Ich hatte seine Erregung gespürt, als die Beute ganz nah war. Ihre Schönheit. Die Gewissheit, dass sie keine Chance hatte, ihm zu entkommen. Seine fürchterliche Gier. Das Grauen, aber auch die hämische Befriedigung des Angriffs.
Ich hatte ihr Blut gewollt.
Ich hatte jeden Tropfen gewollt, bis mein Körper von einem Schwall Übelkeit heimgesucht wurde, mit dem ich aus der Vampirwelt herauskatapultiert wurde.
Was ich getan hatte, war viel mehr als das, wozu Moreau fähig war. Als er während einer meiner Anfälle zu mir durchgedrungen war, konnte er mich zwar sehen. Konnte erahnen, wie ich auf bestimmte Dinge reagieren würde. Vielleicht sogar herausfinden, wo ich mich versteckt hielt – ich hatte etwas unverzeihlich Dummes getan und auf ein Schild gestarrt, auf dem WILLKOMMEN IM MARSHALL RAUMFAHRTZENTRUM stand, bis ich einen Anfall hatte.
Ich aber konnte in seinen Kopf eindringen.
Jetzt, da ich wusste, wie es war, wollte ich es allerdings nicht noch einmal erleben. Der Gedanke war unerträglich. Ich hatte das Gefühl, es würde mich umbringen, und doch wusste ich, dass ich es wieder tun müsste. Nicht morgen. Vielleicht auch nicht nächste Woche. Aber egal wie schlimm es war, ich musste es versuchen.
Nächstes Mal würde ich stärker sein, schwor ich mir. Stark genug, um bei ihm zu bleiben und zu sehen, was der Vampir nach der Mahlzeit tat. Vielleicht würde ich sogar erfahren, wo sich Moreau versteckt hielt. Dann könnte ich tagsüber mit einem Hammer und einem spitzen Speer dorthin gehen und …
Besonders erschreckend war, dass ich selbst beim Blutsaugen Moreaus Befriedigung gespürt hatte. Ich hatte sein Selbstvertrauen gespürt, seine Sicherheit, dass er auf der richtigen Fährte war, dass er mir näher kam. Mit dem Töten der Frau war er mir wieder einen Schritt näher gekommen.
Ich schloss die Augen, um den Gedanken auszublenden, und zog die Plane über mich.
Bei den ersten Sonnenstrahlen erwachte ich. Der Wald glänzte im sanften Morgenlicht. Ich setzte mich hin und atmete die frische Frühlingsluft tief ein. Wunderbar . Der Schrecken der Nacht war weitgehend verflogen. Ich zog mir frische Kleidung an und kletterte vom Turm.
Heute war Samstag. Wahrscheinlich sollte ich Zeichen in einen Zweig ritzen. Aber war es wirklich noch wichtig, jetzt, da die Wochenenden wie jeder andere Tag waren? Ich fragte mich, ob Zeit für Vampire überhaupt etwas bedeutete, abgesehen von der einfachsten Beobachtung: Tag und Nacht.
Dann spazierte ich den Hang hinauf. Es wehte eine frische Brise. Die Richtung war mir egal. Als ich die Kuppel des Sonnenobservatoriums zwischen den Bäumen erblickte – und Sagans Jeep davor parken sah, wusste ich, wo ich war. Sagan lehnte an der Beifahrertür.
»Hi«, begrüßte er mich. Er hielt eine weiße Papiertüte in der Hand. »Ich habe dir Frühstück mitgebracht.«
Wir setzten uns an einen kleinen Picknicktisch am Waldrand und aßen Bagels.
»Woher wusstest du, dass ich hier sein würde?«, fragte ich.
»Hab mein Glück versucht.«
»Wie lange hast du gewartet?«
»Einige Stunden.«
»Wow.«
»Astronomen sind geduldige Menschen. Willst du Frischkäse?«
»Iih. Nein danke. Aber ein bisschen geschmolzene Butter vielleicht …«
»Hab ich leider nicht.«
Ich deutete mit der Hand auf das Observatorium. »Arbeitest du auch am Wochenende?«
Sagan biss von seinem Bagel ab. »Normalerweise nicht. Nur manchmal. Bei bestimmten Ereignissen.«
»Bei was für
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