Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
verschwinden. Sie ruhte nur, bis die Sonne den Schalter wieder umlegte. Womöglich hatten sie Tausende von Jahren keinen Kontakt mit der Sonne und dennoch sind ihnen durch die Sonne wieder Augen gewachsen.«
    Eine Weile dachte ich darüber nach, während ich den Fischen zusah. »Warum könnten sie nicht im tiefen Wasser leben?«
    »Das weiß niemand so genau. Ich glaube … Lebewesen sind so an einen bestimmten Ort gewöhnt, so an das gewöhnt, was sie sind, dass sie einfach dabei bleiben. Niemand versucht je etwas Neues. Deshalb dauert es Millionen von Jahren, bevor sich in der Evolution etwas tut. Man hat Spinnen in fünfzig Millionen Jahre altem Bernstein gefunden, die fast genauso aussehen wie Spinnen, die heute leben.«
    Das gab mir zu denken … Wie ist es bei Vampiren? War ich der erste Schritt einer neuen Phase der Evolution?
    »Woran denkst du?«, wollte Sagan wissen.
    »An nichts.«
    Er grinste. »Ich dachte, du bist immer ehrlich.«
    »Gut, okay. Aber ich kann … ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll.«
    »Von mir?«
    »Ja, ich habe an dich gedacht.«
    Wir nahmen unsere Taschenlampen und küssten uns wieder. Ich hoffte, dass ich nicht nach Fleischwurst schmeckte.
    »Es gibt hier auch blinde Krebse«, sagte Sagan, als ich bereits fürchtete, wir würden uns auf den Rückweg machen. »Aber man muss sich auf den Bauch legen, um zu ihnen zu gelangen. Sie befinden sich in einem unglaublich niedrigen Bereich der Höhle, von dem fast niemand weiß.«
    »Zeig sie mir.«
    Das tat er. Er führte mich am Ufer entlang zu einer schmalen, waagerechten Lücke, die nahezu unsichtbar war, wenn man nicht wusste, wonach man suchte. Wir quetschten uns auf dem Bauch hindurch.
    Sagan hatte nicht übertrieben – flach liegend mussten wir uns weiter vorwärtsschieben, wobei ich mir meine Kleidung ruinierte. Doch ich wollte sie unbedingt sehen. Die Krebse waren kleiner als mein kleiner Finger und lebten in Pfützen, die nicht viel größer waren als eine Vogeltränke. Die Decke war so niedrig, dass man das Gefühl hatte, die letzten Tage eines einst mächtigen Gewölbes zu erleben. »Das ist die Königskammer«, raunte Sagan. Er meinte, seit Jahrhunderten schrumpfe sie, und wir kämen gerade noch rechtzeitig, um das Ende zu erleben.
    Als wir wieder ans Tageslicht kamen, blendete die Sonne so stark, dass sie fast schmerzte, selbst nachdem ich meine Sonnenbrille wieder aufgesetzt hatte. Ich konnte kaum glauben, wie grün alles war.
    »Das macht die Höhle«, sagte Sagan. »Nie sieht die Welt schöner aus, als wenn man von unter der Erde kommt.«
    Doch für mich konnte es nichts Schöneres geben als den seltsam stillen, gleichförmigen See.
    Als wir zum Jeep zurückkehrten, wunderte ich mich über den Stand der Sonne.
    »Wie spät ist es?«, fragte ich.
    Sagan blickt auf sein Handy. »17 Uhr 57.«
    »Das kann nicht sein! So spät?«
    Er lachte. »Das ist ein weiterer Effekt der Speläologie.«
    »Speläologie?«
    »Höhlenforschung. Das Zeitempfinden wird verzerrt. Da man keine Bezugspunkte hat, merkt man nicht, wie die Zeit vergeht. Nichts bewegt sich. Zu wenig Reize.«
    »Ich fand, es waren genug«, widersprach ich und widerstand der Versuchung, seinen Mund mit meinem Zeigefinger zu berühren.
    »Ein französischer Wissenschaftler hat mal ein Experiment gemacht«, berichtete Sagan. »Mit Zelten, Lampen und allen möglichen Aufnahmegeräten hat er sich in eine Höhle begeben. Seine Freunde blieben oben und beobachteten, was er tat. Sechs Monate ist er dort unten geblieben.«
    »Wow, das nenne ich Einsatz.«
    »Er wollte sich vollständig an seine Höhlenumgebung anpassen. Ohne Uhr. Er aß, wenn er hungrig war. Schlief, wenn er müde war. Morgen war, wenn er beschloss, dass jetzt Morgen war und er das Licht entzündete. Genauso hielt er es mit dem Schlafengehen. Nach den sechs Monaten waren seine Freunde erstaunt.«
    »Er war zur Fledermaus geworden?«
    »Jetzt lass mich doch mal zu Ende erzählen.«
    »Oh, tut mir leid. Seine Freunde waren also erstaunt …«
    »Ja, es stellte sich nämlich heraus, dass der Wissenschaftler Tage gelebt hatte, die jeweils sechsundfünfzig Stunden dauerten.«
    »Was? Das glaube ich nicht.«
    »Doch. Ohne Uhr oder irgendwelche Orientierungshilfen hatte sich für ihn ein künstlicher ›Tag‹ von sechsundfünfzig statt vierundzwanzig Stunden herausgebildet. Er hatte keinerlei Ahnung, wie lange er dort unten gewesen war … er dachte, es wären ungefähr drei Wochen gewesen.«
    »Das

Weitere Kostenlose Bücher