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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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nie verändern, nie dem Sonnenlicht ausgesetzt sind, hatten schon immer eine eigenartige Wirkung auf mich. Ich frage mich dann jedes Mal, was Zeit und Dunkelheit wohl mit ihnen anstellen.«
    »Mit wem?«
    »Den Steinen, dem Wasser. Mit allem. Ich bin davon überzeugt, dass alles lebendig ist.«
    »Das ist Anthropomorphismus«, sagte Sagan.
    »Ich weiß, was das ist, du Schlaumeier.«
    »Obwohl man als Anthropomorphismus eigentlich eher bezeichnet, wenn man nicht lebendigen Dingen menschliche Eigenschaften zuschreibt …«
    »Lass uns die Lampen ausmachen«, schlug ich vor.
    »Bist du sicher? Hast du das in einer Höhle schon mal gemacht?«
    »Nein.«
    »Das ist eine ziemlich unheimliche Erfahrung.«
    »Dann los.«
    Wir zählten »Drei, zwei, eins«, und schalteten die Taschenlampen gleichzeitig aus. Zuerst sah ich nur Schwarz, was fast eine Erleichterung war, nachdem ich sonst immer sehen konnte. Doch dann begann ich Umrisse und immer mehr Details zu erkennen, während sich meine Augen langsam gewöhnten. Ich weiß nicht wie. Wir waren so tief unter der Erde, dass dort eigentlich gar kein Licht sein konnte. Und doch sah ich einen schwachen Lichtschimmer, hauptsächlich jedoch die einzelnen Dinge in ihrer ganzen Plastizität, die Steine, meine Hand vor meinen Augen und besonders Sagans Körper, der selbst in diesem lichtlosen Raum leicht bläulich leuchtete.
    Er hatte die Arme vor sich ausgestreckt und sagte kein Wort. Plötzlich merkte ich, dass er nach mir suchte. Allerdings war er in die falsche Richtung unterwegs. Ich schlich mich an ihm vorbei und stellte mich vor ihn. Er griff über meine Schultern hinweg. In dem Moment, als wir zusammenstießen, küsste ich ihn. Ich hörte, wie er Luft holte, und sah ihn dann überrascht zurückweichen.
    »He!«
    Doch im nächsten Moment hatten wir die Arme umeinandergeschlungen.
    Sagan küsste mich und zog mich dicht zu sich heran. Ich hatte eigentlich noch nie jemanden geküsst. So jedenfalls nicht. Nicht einmal Lane Garner . Ich musste mich zurücknehmen, um ihn nicht zu heftig zu küssen. Ich wollte nach seinem Kopf greifen, sein Gesicht an meins pressen, an seinem Haar reißen.
    Mir fiel es schwer, daran zu denken, ihn atmen zu lassen. Ich musste mich von Sagan leiten lassen, um zu wissen, wann ich lockerlassen musste, nur um im nächsten Moment erneut zu beginnen. Ich war so gierig nach seinem Mund, dass ich es kaum ertragen konnte, wie behutsam wir miteinander umgingen. Ungestüm wollte ich sein. Ich konnte Wasser tropfen hören. Vielleicht hätte ich mich hineingeworfen, wenn er meinen Kuss nicht erwidert hätte.
    Das Mittagessen nahmen wir in der Höhle ein. Sandwiches mit Fleischwurst und Käse, die Sagan in dem Rucksack mitgebracht hatte. Die Zeit schien stillzustehen. Auch Hunger, Durst und Schmerzen schien es nicht mehr zu geben. In gewisser Hinsicht auch keine Gefühle. Um uns herum gab es nichts als Steine, seine Lippen auf meinen und seine Umarmung.
    Unsere Lampen legten wir auf einen flachen Felsen und ließen sie auf den reglosen See scheinen.
    »Ich …«, begann ich, nachdem wir eine Weile schweigend vor uns hin gekaut hatten. Ich wollte ihm sagen, wie viel mir das bedeutete, wie unerwartet … wie wunderbar. Doch dann wurde mir bewusst, dass mir die Worte dafür fehlten.
    Stattdessen stellte ich eine belanglose Frage. »Ob es darin wohl Fische gibt?«
    »Ja, blinde«, antwortete Sagan.
    »Das glaub ich nicht.«
    »Willst du sie sehen?«
    Obwohl mein Sehvermögen hundertmal besser war als Sagans, konnte ich unter der Wasseroberfläche nichts erkennen.
    »Du schaust an der falschen Stelle.« Sagan führte mich an eine Stelle, wo sich zwischen den Felsen flache Wasserbecken gebildet hatten. Und tatsächlich schwammen dort winzige weiße Fische.
    »Ihre Augen sind nur kleine Erhebungen«, stellte ich fasziniert fest. Wir beobachteten sie, wie sie hin und her schossen, ohne auch nur die kleinste Wellenbewegung zu verursachen.
    »Und weißt du, was das Coolste ist?«, fragte Sagan. »Wissenschaftler haben einige der Fische rausgenommen und in einem Aquarium dem Tageslicht ausgesetzt …«
    »Und was ist passiert?«
    »Nach ein paar Wochen wuchsen den Fischen Augen!«
    »Du lügst.«
    »Nein, das stimmt. Du kannst im Internet nachschauen. Nach ungefähr sechs Wochen hatten alle Augen. Stell dir das mal vor. Was für eine Information auch immer in ihrer DNA gespeichert war … sie hatte unzählige Generationen von Fischen überdauert, ohne vollständig zu

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