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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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Ruine in den Blick zu bekommen, musste man einen langen Kamm überqueren. Mein Großvater war mit mir unzählige Male zum Spielen hergekommen.
    Ich hatte es geliebt, in dem maison de pierres herumzuklettern. Die Steine boten unzählige Griffe und Trittmöglichkeiten. Als Kind hatte ich mich gern auf die höchste verbliebene Mauer gesetzt, um über das weite Tal zu schauen. Mein Großvater hatte mir einen Stein gezeigt, von dem er wusste, dass er ihn eigenhändig gelegt hatte.
    »Diesen haben wir l’ours genannt – der Bär«, hatte er gesagt und auf einen dicken runden Stein geklopft, der aus der Mauer hervorstand. »Keiner der Jungs wollte ihn anfassen, weil er so riesig war. Außer mir.«
    Auf dem Kamm blieb ich stehen. Unter mir lag das maison de pierres , nicht ein Stein hatte sich verändert. Und ich sah mein Ziel vor mir: Als Kind hatte ich immer davon geträumt, den Schornstein hinaufzuklettern, der größer war als die umstehenden Eichen. Jetzt würde mich niemand mehr aufhalten können.
    Im ehemaligen Ballsaal wuchsen längst hohe Bäume.
    Ich strich mit der Hand über die glatte, kalte Oberfläche des Bären, stellte einen Fuß auf die Rundung, sprang ab – und landete auf halber Höhe des Schornsteins. Mit einem weiteren Sprung war ich oben. Am liebsten hätte ich geschrien – vor Freude? Ich war mir nicht sicher. Freude war sicher dabei, aber das Gefühl war zu ungestüm, um reine Freude zu sein. In meiner Kehle schwang noch etwas Dunkleres mit, eine Art Kriegsruf.
    Dies hätte die beste Nacht meines Lebens sein sollen. Doch mir war so viel genommen worden. Nun auch noch Sagan. Während er älter wurde und starb, würde ich mich unverändert durch die Jahrhunderte bewegen. Allein .
    Ich schob die Hände in den Rauchfang und schmierte mir mit den rußigen Händen das Gesicht ein. Dann stellte ich mich breitbeinig über den Schornstein, riss die Arme hoch und brüllte in die Dunkelheit. Ich rief nach dem Monster.
    Nachdem ich wieder hinuntergeklettert war, setzte ich mich auf den Bären und dachte nach. Ich blickte auf die Uhr, die Sagan mir geschenkt hatte. Schon nach zehn . Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich bereits so lange unterwegs war. Schließlich stand ich auf und streckte mich, bereit »nach Hause«, auf meine Luftmatratze, zurückzukehren.
    Ich schwang mich über die niedrige Mauer und lief an der Vorderseite der Hotelruine entlang in Richtung Wald. Ich fragte mich …
    Jemand trat zwischen den Bäumen hervor und warf eine Decke über mich.
    Moreau .
    Ich schlug auf die Hände, die mich festhielten, doch jedes Mal, wenn ich mich befreit hatte, griffen neue Hände aus einer anderen Richtung zu. Der Vampir schien überall gleichzeitig zu sein, versuchte mich an sich zu pressen und zu ersticken. Ich wurde in der Decke auf den Boden geworfen und spürte sein Gewicht auf mir. Fluchend wehrte ich mich mit Händen und Füßen, während ich gleichzeitig versuchte, die Decke von mir zu reißen.
    Einmal gelang es mir, eine Hand zu befreien, und ich erwischte ein Haarbüschel. Ich hörte den Vampir schreien, wurde dann aber in die Dunkelheit zurückgedrückt. Ich versuchte mit den Zähnen nach seinen Fingern zu schnappen, doch es gelang mir nicht, mich darin festzubeißen. Meine Arme wurden immer wieder zurückgezerrt, wenn ich mich zwischenzeitlich kurz aus seinem Griff lösen konnte. Er war so schnell, viel schneller, als ich gedacht hatte. Auf alles, was ich ausprobierte, schien er reagieren zu können.
    Plötzlich wurde ich geschüttelt und rollte aus der Decke ins Gras und weiter den Hang hinab. Irgendwann bekam ich die Füße an die Erde und drückte mich ab. Ich landete wie eine Katze.
    Der Vampir stand jetzt breitbeinig direkt vor mir. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt und … Brüste. Der Vampir hatte Brüste. Es war gar nicht Moreau, sondern ein großes, schlankes Mädchen, das ungefähr so alt war wie Sagan. Meine Gegnerin hatte dickes rotbraunes Haar, das in ihrem zierlichen Nacken zusammengebunden war, und trug ein altmodisches Kleid.
    Neben ihr standen zwei weitere Gestalten, ein Junge und ein Mädchen in meinem Alter. Sie sahen aus wie Geschwister. Der Junge war ein bisschen größer als das Mädchen. Beide waren mit schwarzen T-Shirts und blauen Jeans bekleidet und hatten schwarzes Haar – das des Mädchens war sogar ein wenig kürzer als das des Jungen. Sie schienen bereit, mich anzuspringen, wenn ich mich auch nur einen Zentimeter bewegte. Der Junge

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