Verletzlich
Spektrums, im Winter, hier draußen zu leben. Der Gedanke, dann immer noch ohne richtiges Zuhause zu sein, war deprimierend. Sagan sagte etwas.
»Was?«, fragte ich.
Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und winkte mit der Hand vor meinen Augen. »Du hast mich direkt angesehen«, sagte er. »Aber selbst durch deine Sonnenbrille konnte ich sehen, dass du diesen leeren, in die Ferne gerichteten Blick draufhattest, der mir schon öfter aufgefallen ist.«
»Tut mir leid. Meine Mutter hat sich auch oft darüber beschwert.« Jetzt sprach ich über meine Mutter schon in der Vergangenheitsform. Ich musste sie unbedingt anrufen. Und meinen Großvater auch.
»Du bist dann immer vollkommen weg. Keine Ahnung, wohin du dann abdriftest und wie man dich zurückholen kann.«
Ich nahm einen weiteren Bissen und versuchte das Thema zu wechseln. »Mein Gott, ist das lecker. Danke.«
Noch immer hatte ich den Bier- und Blutgeschmack des jungen Typen im Mund, jedenfalls bildete ich es mir ein. Gern hätte ich Sagan von meiner ersten chasse de sang erzählt. Doch es war alles so irre. Ich fragte mich, ob ich gerade eine grundlegende Wandlung durchlebte, die über das Körperliche weit hinausging. Als ich den soleils begegnet war, hatte ich sie seltsam gefunden – wie von einer anderen Welt. Jetzt, nur wenige Stunden später, war es Sagan mit seinem weißblonden Haar und den stechenden, blauen Augen, der mir ungewohnt und anders vorkam. Fast hatte ich das Gefühl, als gehörten wir unterschiedlichen Spezies an, und ich fragte mich, ob er es ebenfalls spürte.
»Du bist ziemlich still heute«, sagte er. »Ist gestern Abend etwas passiert?«
»Nein, eigentlich nicht.« Es war nur die seltsamste Nacht in meinem Leben. Und davon hat es in letzter Zeit einige gegeben. »Ist nur irgendwie komisch im Dunkeln hier draußen.«
»Ja, wir müssen uns unbedingt darüber unterhalten, wie wir deine Situation ändern können.«
»Das ist doch nicht dein Problem.«
»Ich weiß, aber du kannst nicht länger hier draußen leben. Früher oder später wird dich jemand schnappen. Oder du verletzt dich und kannst nicht einmal nach Hilfe rufen.«
»Hab ich dir meine Haltung dazu nicht schon mitgeteilt?«, fragte ich, ohne ihn anzusehen.
»He, jetzt entzieh dich mir nicht schon wieder.«
»Tu ich doch gar nicht. Ich habe bloß keine Lust, mich dauernd zu rechtfertigen.«
Sagan legte sein Sandwich ab und stand auf. »Aber das ist das Problem! Du erklärst mir nichts und erwartest, dass ich Verständnis dafür habe. Was würdest du umgekehrt tun? Wenn ich obdachlos hier draußen irgendwo im Wald hausen würde. Würde dir das gefallen?«
Ich schob mir das letzte Stück Schlotzky in den Mund und kaute. Ließ ihn warten, während ich einige Schlucke Limonade trank. Ich dachte über einen Satz nach, den Lena gesagt hatte.
»Du hast mir doch neulich von so einem Phänomen erzählt«, begann ich.
»Dauernd versuchst du das Thema zu wechseln.«
»Ich weiß. Aber erklär mir das doch bitte noch mal. Mit Koronos’ Massenwurf oder wie das heißt. Eine Sache war mir da nicht ganz klar.«
»Koronaler Massenauswurf. Was ist damit?«
»Was verbirgt sich genau dahinter?«
»Wie gesagt, das ist ein massiver Ausbruch von Substanzen aus der Sonne.«
»Könnte man es als Eruption der Sonne bezeichnen?«
»Sicher, aber worauf willst du hinaus? Ich dachte, diese Solargeschichten langweilen dich.«
»Tun sie auch. Es gibt also eine Eruption der Sonne, bei der mit viel Kraft Substanzen in die Atmosphäre geblasen werden. Was sind das für Substanzen?«
Sagan schaute in die Ferne und schien nachzudenken. »Vor allem ist es eine riesige Gasblase. Plasma, um genau zu sein. Das Plasma besteht hauptsächlich aus Elektronen und Protonen.«
»Und aus noch etwas anderem?«
»Na ja.« Er trommelte sich mit den Fingern an die Schläfen. »Kleine Mengen anderer Elemente wie Helium, Sauerstoff oder Eisen. Davon abgesehen spielt das koronale magnetische Feld eine Rolle.«
»Also, wenn diese Sonneneruption …«
»Sag lieber KMA«, unterbrach mich Sagan. »Es gibt einen leichten Unterschied. Eine Sonneneruption kann auch ein sogenannter Flare sein, eine Explosion, die meistens in Verbindung mit Sonnenflecken auftritt. Dabei werden Röntgen- und UV-Strahlen freigesetzt.«
»Und das ganze Zeug rieselt dann auf die Erde?«
»Wenn die Richtung passt, bekommen wir das auf der Erde ab, ja. Ein Teil wird vom elektromagnetischen Feld der Erde abgefangen, aber der
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