Verletzlich
noch kilometerweit zu sehen.
Ziemlich lädiert und zerkratzt kam ich schließlich zu Hause an. Bevor ich begann, schwerfällig den Turm hinaufzuklettern, trank ich am Wasserhahn und machte mich ein wenig frisch. Die Sonne ging bereits auf, als ich mich auf meiner Luftmatratze ausstreckte und mir den verletzten Arm hielt …
Er weiß, dass ich in Huntsville bin , dachte ich, wickelte mich in die Plane und erschauerte bei dem Gedanken. Du musst etwas tun, Emma. Überleg dir was. Wenn ich mich richtig erinnerte, lebten in dieser Stadt eine Viertelmillion Menschen. Außerdem hielt ich mich genau genommen nicht in Huntsville auf. Das Raumfahrtzentrum bildete eine eigene kleine Welt, ähnlich wie der Vatikan, der auch nicht richtig zu Rom gehört. Mit ein wenig Glück würde Moreau nicht auf die Idee kommen, hier nach mir zu suchen.
Ich hatte mich ablenken lassen von all den verrückten Dingen, die ich bei den soleils erlebt hatte. Sonst wäre ich nie in den Streifenwagen gerannt. So etwas durfte nicht noch einmal passieren.
Wenn ich wirklich vorsichtig vorginge, könnte ich noch immer eine Nadel im Heuhaufen werden. Und zur Not würde ich eben immer weiter ziehen – von Stadt zu Stadt, auf der Suche nach immer neuen Verstecken. Vielleicht könnte ich dann, wer weiß …
Nein.
Fluchend trat ich die alberne Plane fort. Genau das wollte der Vampir erreichen – dass ich mich exponieren musste. Moreau hatte mich so weit gebracht, dass ich mich rückwärtsbewegte. Das bin ich nicht , dachte ich. Nicht mehr. Drei Mal in meinem Leben war ich von zu Hause fortgelaufen, das war genug. Wenn es auf dem Fußballfeld Ärger gegeben hatte, war ich dem auch nie aus dem Weg gegangen. Was war aus der selbstbewussten Kämpferin geworden, die auf dem Schornstein des Steinhaus-Hotels gestanden und in die Nacht gerufen hatte? Wie hatte ich das so schnell vergessen können?
Das Monster soll kommen.
Ich wollte, dass das Monster kommt. Ich konnte nicht den Rest der Ewigkeit damit verbringen, vor Schatten zu fliehen. Ein Duell mit dem Vampir … nur dadurch würde ich mich je befreien können. Nur dadurch würde meine Familie sicher sein. Ich erinnerte mich an einen Satz meines Fußballtrainers.
Am besten bist du, wenn du dreist bist.
Ich legte mich wieder nieder und fiel in einen traumlosen Schlaf.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich in der Nähe meines Kopfes ein Schrillen wahrnahm. Sofort sprang ich auf wie bei einem Fliegeralarm und griff nach der Axt. Doch die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Zuerst wusste ich das Schrillen gar nicht zuzuordnen, bis mir das Funkgerät einfiel, das Sagan mir gegeben hatte. Ich wühlte in meiner Tasche, setzte mir den Kopfhörer auf und brauchte einen Moment, bis ich wieder wusste, wie es funktionierte. Schließlich fand ich den richtigen Knopf und drückte auf das Mikrofon.
»Hi.«
In meinem Ohr zischte es. »Du klingst müde«, stellte Sagan fest.
»Eher taub! Das Ding ist superlaut.« Gähnend regulierte ich die Lautstärke.
»Bekommst du auch genug Schlaf, Emma?«
Wenn du wüsstest , dachte ich. »Du klingst wie meine Mutter.«
»Was willst du heute machen? Bist du hungrig?«
Vorsichtig bewegte ich meinen Ellbogen. Er schmerzte, aber es war erträglich. Die seltsame Nacht zog im Schnelldurchgang noch einmal an mir vorbei. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich nicht nur hungrig war, sondern vor allem Sagan sehen musste. Sofort!
»Sehr hungrig«, antwortete ich. »Bringst du mir was?«
»Du lässt dich inzwischen ganz schön verwöhnen, weißt du das?«, tadelte Sagan.
»Ja, aber jetzt beeil dich, bevor ich grantig werde und ein Kaninchen erlege.«
»Schon gut, mach ich … aus Sorge um den Wildbestand.« Dass er grinste, war seiner Stimme deutlich anzumerken. »Ich bringe Schlotzkys mit.«
»Was bringst du mit?«
»Die magst du garantiert.«
Schlotzkys entpuppten sich als große ovale Graubrotscheiben mit Corned Beef und Senf.
»Woher wusstest du, dass ich so etwas mag?«, fragte ich und nahm einen großen Bissen. Ich hatte das Gefühl, es wäre Tage her, seit ich zum letzten Mal gegessen hatte. Endlich wieder etwas Richtiges zu essen . Unwillkürlich zog sich mir der Magen zusammen.
»Glückstreffer«, sagte Sagan.
Wir saßen an dem kleinen Picknicktisch hinter dem Solarobservatorium. Es war wärmer als gestern und die Zikaden sangen in den Bäumen, was in mir sofort Gedanken an den Sommer wachrief und daran, wie es wohl wäre, am anderen Ende des
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