Verletzlich

DeLéon.«
    »Interessante Antwort.«
    »Nicht, um das Schlechte zu tun, was sie vielleicht auch zu verantworten haben«, schob ich schnell hinterher, »nur um zu erleben, wie es sich anfühlt, Neuland zu entdecken. Wissen Sie, was ich meine? Bevor alles anders geworden ist. Ich würde zu gern sehen, wie die Wälder ausgesehen haben. Welche Tiere es gab. Die Ureinwohner Amerikas und einige Abenteuer erleben. Herausfinden, wo wir die Geschichte falsch wiedergeben. Ich habe mir immer gewünscht, zu den Siedlern von Jamestown gehört zu haben.«
    »Aber haben die sich nicht zum Schluss gegenseitig gegessen?«, erkundigte sich Sagans Tante erschrocken.
    Ich biss auf ein Maiskorn. »Sicher. Papi, mein Großvater, und ich haben darüber gelesen. Einige Archäologen sagen, dass es nur schwer zu beweisen ist. Man weiß aber, dass mindestens die Hälfte der ersten Siedler gestorben ist. Deshalb bezeichnet man diese Zeit auch als ›Hungerwinter‹. Angeblich hat ein Mann seine tote Frau, die schwanger gewesen war, ausgegraben, sie in Stücke geschnitten und gegessen. Captain John Smith hat darüber sogar geschrieben. Er meinte, er wüsste nicht, ob sie ›gebraten, gekocht oder gegrillt besser schmeckt‹.«
    Als ich von meinem Mais aufblickte, merkte ich, dass mich alle anstarrten, besonders die kleinen Kinder.
    »Mmmm das Essen ist so lecker«, schwärmte ich.
    Zum Nachtisch gab es selbst gemachtes Eis. »So etwas esse ich zum ersten Mal seit …« Ich biss mir auf die Zunge.
    »Was?«
    »Nichts. Ich musste nur gerade an alte Zeiten denken.«
    Nach dem Essen nahm mich Sagan mit hinein. Es war ein komisches Gefühl, durch sein Haus zu gehen. Diese Leute waren so … engagiert. Überall hingen Kunstwerke, Fotos und Bastelarbeiten der Kinder.
    »Komm, ich zeig dir mein Zimmer«, sagte er.
    In der oberen Etage kamen wir an einem Raum voller Perlen und goldener Spiralen vorbei, die von der Decke hingen und in der Sonne blitzten.
    »Hier wohnen Bree und Jenna«, erklärte Sagan.
    Im nächsten Zimmer lagen überall Bücher. Kniehohe Stiefel und ein Instrument, das wohl ein Cello war … jedenfalls sah es aus wie eine aufgeblasene Geige. Auf einer Lavalampe steckte eine Mütze aus rosa-weiß gestreiftem Fell.
    »Charlotte.«
    Wir gingen ein wenig weiter, dann stellte ich mich ihm in den Weg und schaute ihm in die Augen.
    »Sie sind alle sehr nett«, sagte ich. »Habe ich mich gut benommen?«
    Sagan erwiderte meinen Blick und strich mir das Haar aus den Augen. »Bestens, abgesehen von der Kannibalengeschichte …«
    »Das wollte ich damit doch gar nicht …«
    Einige kreischende, nasse Kinder sausten an uns vorbei durch den Flur.
    »Du bist wunderbar«, sagte er. »Danke, dass du gekommen bist. Alle mögen dich.«
    »Sicher.«
    »Nein wirklich.«
    »Ist es bei euch immer so?«
    »Nur am Wochenende. Den Rest der Woche ist es nicht so ruhig.«
    In Sagans Zimmer sah es ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Ich hatte mit Postern von Supernovae, Planetenmodellen und Astronomiebüchern gerechnet. Stattdessen war es eher spartanisch eingerichtet. Auf einem Schreibtisch, der eigentlich nur ein einfacher Holztisch war, stand ein Laptop. Ein Bett ohne Kopfteil war unter das Fenster geschoben. Außerdem eine Kommode und ein Schrank aus Eichenholz mit einem kleinen Fernseher.
    »Wow, das ist hier ja total … aufgeräumt«, sagte ich. »Wo hast du all dein Zeug?«
    »In unserem Haus liegt überall so viel herum«, sagte Sagan. »Hier ist mein Reich und ich mag es schlicht, einfach und rational. Dann verschwende ich auch keine Zeit damit, mir über nutzloses Zeug Gedanken zu machen.«
    »Ich bin beeindruckt. Nein, wirklich. Mach die Tür zu.«
    »Warum?«
    »Schließ sie einfach.«
    Sagan schloss die Tür und drehte sich dann verlegen um. Auf der Rückseite hing ein lebensgroßes Poster von einem bärtigen Cowboy mit finsterem Gesicht, schwarzem Hut mit breiter Krempe und zwei Pistolen, die er gekreuzt vor der Brust hielt. Darüber stand DER TEXANER.
    »Sieh mal einer an. Und wer ist das, bitte schön?«, erkundigte ich mich grinsend.
    »Ach, ähm, hör auf dich über mich lustig zu machen.«
    »Nein, ehrlich, Sagan! Wer ist das?«
    »Das meinst du doch wohl nicht ernst? Du weißt doch, wer das ist: Clint Eastwood natürlich!«
    »Der alte Knacker?«
    »Na ja, als der Film gedreht wurde, war er noch viel jünger. Er hat in vielen Western mitgespielt.«
    »Ernsthaft, ich habe nie einen gesehen.«
    Ungläubig sah er mich an. »Aber das