Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
spät.
Die Fahrt nach Jessheim dauert fast fünfzig Minuten, und es ist nicht ganz einfach, das Haus zu finden. Eine Ansammlung neugieriger Nachbarn und katastrophengeiler Medienleute drängeln sich hinter der Polizeiabsperrung, als sie endlich vorfahren. Eine TV2 -Reporterin mit Mikrofon in der Hand spricht mit ernster Miene in eine Kamera, als würde sie eine Todesnachricht überbringen. Im nächsten Moment richtet sich ihr Blick auf Trines Wagen. Es dauert nicht lange, und die blonde Reporterin hat das Fahrzeug erkannt und weiß, wer gerade eingetroffen ist.
Während der Fahrer einen geeigneten Parkplatz sucht, versucht Trine, ihre Gedanken zu sammeln. Sie spürt die Blicke auf sich, als sie aussteigt, und sucht sich einen Punkt über den Köpfen der Menge, auf den sie sich konzentrieren kann, während sie sich durch das Gedränge einen Weg zu der Absperrung bahnt.
»Justizministerin Trine Juul-Osmundsen, was machen Sie hier?«
Sie antwortet nicht, sondern tritt auf einen uniformierten Beamten zu und wird sofort eingelassen. Ihre Absätze klackern taktfest über den Asphalt. Sie geht zu dem Fahrzeug, auf dem Einsatzleiter steht, und nickt den uniformierten Männern zu. »Wer ist hier der Chef?«
Ein großer, dunkelhaariger Mann dreht sich um. »Das bin ich. Simen Krogh«, antwortet er und reicht ihr die Hand.
Trine ergreift sie. »Gab es erneut Kontakt zu dem Geiselnehmer?«
»Nein«, sagt Krogh. »Er hat sich in der letzten Dreiviertelstunde nicht mehr bei uns gemeldet und wir uns nicht bei ihm. Aber wir haben alle Vorkehrungen getroffen. Es stehen Leute bereit, das Haus zu stürmen – falls das notwendig werden sollte. Sämtliche Kommunikationsleitungen sind offen. Die Polizeipräsidentin ist auf Stand-by, um die Aktion zu verfolgen und gegebenenfalls zu entscheiden, ob wir eingreifen sollen oder nicht.«
»Die Entscheidung treffe ich«, sagt Trine. »Noch bin ich Justizministerin.«
»Ähm, ja, selbstverständlich. Sind Sie über den Täter informiert worden?«
»Ein wenig, ja«, sagt sie und nickt. Sie hat sich als Kind nicht für Nachrichten interessiert, aber der Schneeunfall in Jessheim ist ihr aus der Lokalzeitung im Gedächtnis geblieben. Remis Bruder erstickte in einer eingestürzten Schneehöhle. Ein schrecklicher, tragischer Unfall.
»Okay, gut«, sagt Krogh. »Bevor wir loslegen, möchte ich gerne, dass Sie mit der Unterhändlerin aus Lillestrøm reden. Folgen Sie mir bitte.«
Krogh führt Trine an den Leuten der Einsatztruppe vorbei zu einem Einsatzfahrzeug, gibt eine Order, die Trine zwar nicht versteht, aber eine zivil gekleidete Frau steigt daraufhin aus. Sie trägt eine schusssichere Weste über einer dünnen, dunkelblauen Regenjacke.
»Tone Tellefsen«, stellt sich die Frau vor, »Polizeibehörde Romerike.«
»Trine Juul-Osmundsen.«
Sie begrüßen sich mit Handschlag, lächeln kurz.
»Ich werde die ganze Zeit über neben Ihnen stehen und jedes Wort mitbekommen, das gesagt wird. Jede solche Situation ist einzigartig, darum lässt sich im Voraus schlecht sagen, wie es verlaufen wird. Aber eines ist wichtig, auch wenn es einem vielleicht selbstverständlich vorkommt: Sagen oder tun Sie nichts, was ihn noch wütender machen könnte, als er ohnehin schon ist. Erinnern Sie ihn nicht daran, weshalb er hier ist. Und sprechen Sie nicht auf eine Weise mit ihm, die er als Drohung auffassen könnte. Hören Sie zu, und sprechen Sie mit Ihrer sanftesten Stimme.«
Trine nickt.
Tellefsen lächelt sie freundlich an. »Ziemlich ungewöhnliche Situation, dass ein Geiselnehmer mit einer Ministerin sprechen will. Wir sind froh, dass Sie gekommen sind. Das ist sehr mutig von Ihnen.«
»Danke.« Trine fühlt Wärme in sich aufsteigen. »Welches Haus ist es?«
»Das rote dort drüben.«
Davor steht ein weiterer Einsatzwagen. Trine sieht die Einsatztruppe in dunklen Uniformen strategisch um das Haus herum verteilt. »Also gut«, sagt sie und geht auf den Wagen zu. »Los geht’s.«
79
Was soll sie nur tun?
Emilie Blomvik sitzt auf dem Boden, nur wenige Meter von Mattis entfernt. Sie zittert, obwohl ihr eigentlich warm ist. Remi läuft vor ihnen auf und ab, setzt sich, springt wieder auf. Schließt die Augen und schüttelt sich. Er sieht irgendwie aus, als hätte er Kopfschmerzen. Und jetzt steht die Polizei draußen.
Die Frage ist, ob sie etwas unternehmen oder warten soll, bis die Polizei diese Sache geregelt hat. Aber kann sie darauf vertrauen, dass es der Polizei gelingt?
Ja, denkt sie
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