Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
schwerer, sie zu verletzen.«
Trine nickt, schließt die Augen und versucht, sich zu konzentrieren. Und wenn es schiefgeht? Was wird man dann erst über sie denken?
Trine spürt das Pochen in ihrer Brust. Ihr Puls ist auf hundertachtzig. Adrenalin. Eigentlich liebt sie dieses Gefühl, doch dies hier ist kein Sportrausch. Sie atmet schwer und schließt wieder die Augen. Dann wählt sie die Nummer.
Remi starrt auf das vibrierende Telefon auf dem Küchentisch. Sie rufen nicht mehr auf Emilies Nummer an, sondern auf seiner. Also wissen sie, wer er ist und was er getan hat. Wie ist das möglich? Was hat er nur falsch gemacht?
Noch einmal geht er in Gedanken den Mord an Erna Pedersen durch. Als er sie das erste Mal vom Singkreis zurück ins Fernsehzimmer schob, hat sie ihn nicht erkannt. Erst als er ihr das Klassenfoto gezeigt und von den Bruchstrichen erzählt hat.
Remi hat sich mit Zahlen nie leicht getan. Eines Tages zitierte sie ihn an die Tafel und bat ihn, einen Bruch zu lösen, den sie an die Tafel geschrieben hatte. Er stand da und starrte das Wirrwarr der Zahlen an, ohne auch nur irgendetwas zu verstehen. Anschließend war er überzeugt davon, dass sie es genau darauf abgesehen hatte: dass er von allen ausgelacht würde. Anders war es nicht zu erklären, dass sie ihm befahl, unter einen der Tische in der ersten Reihe zu kriechen, auf den sie dann mit dem Stock schlug und rief: »Das ist ein Bruchstrich! Und eine Null unter dem Bruchstrich ist ein Ding der Unmöglichkeit! Das geht nicht!«
Ein anderes Mal brachte sie drei große Tafeln Schokolade mit und versprach sie der Klasse, sofern alle, wirklich alle es schafften, die Gleichung zu lösen, die sie ihnen heute beibringen wollte. Remi schaffte es natürlich nicht. Dass er der Klasse die Belohnung vermieste, machte sie sofort wieder zu einer Riesensache. Ihr Hohn war unerträglich.
Nachdem er ihr das Klassenfoto gezeigt und auf sich selbst gedeutet hatte, schien sie ihn wiedererkannt zu haben, wenn sie auch nichts sagte. Schon in diesem Moment hatte er unbändige Lust, das Licht in ihren Augen auszulöschen – aber es ging nicht. Dafür hatten ihn zu viele Leute gesehen. Außerdem wartete Markus auf ihn. Aber er ließ das Klassenfoto bei ihr im Zimmer hängen, vielleicht kam sie so ja darauf, was sie ihm angetan hatte. Vielleicht würde sie sich beim nächsten Mal ja entschuldigen.
Aber nein. Stattdessen sah er wieder nur dieselbe Verachtung, mit der sie ihn schon in der Schule gestraft hatte. Und obwohl er es vorgehabt hatte, verstand er nicht wirklich, was vor sich ging, bis er sie getötet und die Trophäe an ihrer Wand kaputt geschlagen hatte. Das Bild von der Familie ihres Sohnes, das wie ein Diplom an der Wand hing, das Inbild einer erfolgreichen, glücklichen Familie. Er nahm das Klassenfoto mit und schlich damit zurück ins Fernsehzimmer, wo er sich hinter Markus stellte und weitersang.
Remi hatte mit Markus seit der Schule nicht mehr gesprochen, bis sie sich zufällig im Spaceworld in der Storgata über den Weg liefen, wo Remi sich einen neuen Computer kaufen wollte. Natürlich begannen sie zu reden, und eigentlich war es ganz amüsant zu sehen, was aus dem alten Schürzenjäger geworden war. Nichts. Er hatte weder Frau noch Kind, dafür aber einen imposanten Rettungsring um den Bauch, und anstelle seiner blonden Locken prangte jetzt eine Glatze. Auch arbeitsmäßig sah es schlecht aus.
Aber keiner von beiden hatte viele Freunde, weshalb sie begannen, hin und wieder gemeinsam abzuhängen. Anfangs war das nicht leicht. Remi konnte seine Erinnerungen nicht loswerden, und Markus sagte nicht viel. Jedenfalls nicht freiwillig. Sie mussten fast eine ganze Flasche Vargtass leeren, bevor Remi sich traute, Markus zu fragen, ob er noch Kontakt zu Emilie hätte, womit sie unweigerlich beim Thema waren.
Wenn Remi etwas von seinem Vater gelernt hatte, dann dass Entschuldigungen auf die unterschiedlichsten Weisen kamen. Erst als sein Hirn vom Alkohol umnebelt war, servierte Markus ihm so etwas wie ein leises Bedauern. Aber Bedauern ist eigentlich nicht viel mehr als ein Ausdruck von Mitgefühl und nichts, womit man Verantwortung für sein Tun übernimmt. An diesem Abend fasste er seinen Entschluss.
Markus sollte seinen Teil der Verantwortung übernehmen.
Remi wusste, dass Markus irgendwann einmal mit Johanne zusammen gewesen war. Und er fand heraus, dass Erna Pedersen im Grünerhjemmet wohnte und dass eine Gruppe Ehrenamtliche manchmal für sie sang und
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