Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
besorgt, ein paar Kleider und ein Ersatzhandy, da die Polizei ihr eigenes sofort orten würde.
Trine zieht sich die rote Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Sie hat eine für sie untypische Brille aufgesetzt und blickt keinem der entgegenkommenden Fahrer ins Gesicht, wobei sie eigentlich davon ausgeht, dass ohnehin niemand sie erkennen würde.
Als sie in den Lier-Tunnel hineinfährt, muss sie an die erste Frage denken, die ihr gestellt wurde, als nach der Wahl die Regierung mit William Jespersen an der Spitze vor die Öffentlichkeit trat. »Haben Sie als Justizministerin überhaupt noch Zeit, Ihren Mann zu sehen?« Diese Frage hat Trine damals vollkommen überrumpelt. Sie hatte erwartet, zu ihren Themen sprechen zu müssen, und war nicht darauf vorbereitet, dass die Medien sich für ihr Privatleben interessierten – und zwar vor allem für ihr Privatleben. Anschließend hat sie sich geärgert, dass ihr keine schlagfertige Antwort eingefallen ist, sondern bloß ein gestottertes »Ja, natürlich«.
Und jetzt flieht sie also auch vor Pål Fredrik. Sie hat ihm vor ihrer Abfahrt per SMS mitgeteilt, dass sie heute nicht nach Hause kommen wird, aber keine Antwort mehr erhalten.
Das neue Telefon klingelt.
»Hallo, Katarina«, meldet sie sich.
»Wo bist du?«
»Kurz vor Drammen.«
»Und, wie geht’s?«
»Es geht, Katarina, es geht schon.«
»An sich ist das nichts Ungewöhnliches … Ich dachte, ich mache dich aber trotzdem darauf aufmerksam: Die Opposition hat sich auf die Sache gestürzt. Noch unangenehmer ist aber, dass auch der Leiter unserer Jugendorganisation an die Öffentlichkeit getreten ist und gesagt hat, dass dies eine sehr ernste Sache sei, sollte sie der Wahrheit entsprechen.«
Trine seufzt.
»Aber du weißt ja, wie die Medien sind. Ernste Angelegenheit, titeln sie, und der Vorbehalt folgt erst im Kleingedruckten.«
»Typisch. Sonst noch was?«
»Bisher nicht. Bis jetzt ist alles einigermaßen ruhig.«
»Okay.«
»Ruf mich an, wenn du da bist.«
»H-hm«, murmelt sie, obwohl sie keine Lust hat zu telefonieren oder mit irgendjemandem zu reden. Sie will einfach nur weg.
Sie wirft einen Blick in den Rückspiegel und sieht den schwarzen Audi mit den zwei Leibwächtern dicht hinter sich. Sie sind sicher beunruhigt, denkt sie. Schließlich sind sie auf dem Weg zu einem Ort, den sie nicht kennen und über den sie sich noch keinen Überblick verschaffen konnten. Trine versteht sie gut. Es bräche die Hölle los, wenn während ihrer Schicht der Justizministerin etwas zustieße.
19
Er studiert die Farben und Kontraste auf dem Bildschirm. Er könnte die Umgebung ein bisschen aufhellen und ihr mehr Farbsättigung verleihen. Oder auch nicht.
Er mag die Stimmung in dem Bild. Den Morgennebel, der über dem Außengelände des Kindergartens liegt. Die Bäume, von luftiger Natur umwölkt. Er hätte mehr Fotos davon machen sollen, nicht nur von dem Jungen mit dem verschmierten Mund. Auf dem Foto, das er gerade bearbeitet, lacht der Junge nicht, sondern ist konzentriert bei der Sache. Er sitzt warm eingepackt in seiner Matschhose auf dem Boden. Glücklich unwissend, dass das alles nur ein trügerischer Schutz ist.
Einem Jungen von zweieinhalb Jahren kann alles Mögliche zustoßen.
Er markiert die Konturen des Jungen, zieht die Kontraste an, sodass er sich deutlicher von dem schwachen Morgenlicht abhebt, und probiert ein paar Filter aus.
Der Drucker unter dem Tisch springt mit einem lang gezogenen Brummen an, und gleich darauf liegt der Junge da, scharf und klar.
Er mustert das rundliche Kindergesicht, betrachtet die Nase, den Mund, die Zähne.
Ist etwas von ihm in dem Jungen zu erkennen?
Er weiß, dass dies ein idiotischer Gedanke ist, kann sich aber nicht dagegen wehren. Und er sieht die beiden vor sich, Hand in Hand, wie sie ihn hinter sich herzieht, weil sie wieder einmal zu spät dran ist. Aber so entspannt, wie sie an diesem Morgen unterwegs war, muss es heute anders gewesen sein. Sie ist so schön, noch immer. Und der Junge. So klein, so unschuldig.
Noch.
Er setzt sich wieder vor den PC und loggt sich in Facebook ein, um die jüngsten Status-Updates zu überfliegen. Schüttelt den Kopf. Alle sind so verdammt perfekt und glücklich. Er denkt an das, was tags zuvor passiert ist, an das Karamellbonbon, das er verschluckt hat, noch ehe er es überhaupt schmecken konnte. Die Alte war gleich tot. Er ist sich erst dessen bewusst geworden, was er da tat, als es bereits geschehen war. Ergo hat er auch nicht
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