Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
in Kløfta aufgewachsen, sieben, acht Kilometer von Jessheim entfernt, woher Erna Pedersen stammte. Einer seiner Freunde aus dieser Zeit heißt Atle Abelsen. Eigentlich haben sie sich erst in der weiterführenden Schule näher kennengelernt. Sie teilten ein gemeinsames Interesse: die Musik. Sie trafen sich ein paar Mal und versuchten, Texte und Melodien zu etwas Brauchbarem zusammenzubasteln. Doch irgendwann wich Atles Interesse an der Musik einer Leidenschaft für alles, was mit Cyberspace und Computern zu tun hatte. Inzwischen arbeitet er als Programmierer für eine Firma in Lillestrøm, was ihn aber nicht daran hindert, zwischendurch auch mal nicht ganz offizielle Nebenjobs anzunehmen, wenn sie nur gut genug honoriert werden.
Henning schickt ihm eine E-Mail und erklärt, wobei er diesmal Unterstützung bräuchte – und verspricht die übliche Flasche Calvados als Dank für Atles Hilfe.
Dann widmet er sich Erna Pedersens Familie. Er findet heraus, dass ihr Sohn Tom Sverre heißt und als Arzt im Universitätsklinikum Ullevål arbeitet. Tom Sverre Pedersen ist in den letzten Jahren häufiger in den Medien gewesen, weil er sich für Reformen in der Medizinerausbildung starkmacht. Wenn Henning sich richtig erinnert, hat Pedersen vor nicht allzu langer Zeit sogar an einer Fernsehdebatte zu diesem Thema teilgenommen.
Henning wählt Pedersens Mobilnummer, wird aber direkt auf die Mailbox weitergeleitet. Ich bin heute sicher nicht der Einzige, der versucht, ihn zu erreichen, denkt sich Henning. Womöglich sitzt er gerade im Verhör bei der Polizei.
Trotzdem hinterlässt Henning eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf, was wahrscheinlich nichts nützen wird, aber man weiß ja nie. Leute, die schon mal in den Medien waren, ergreifen erfahrungsgemäß gerne jede Gelegenheit, die sich ihnen bietet.
Um ihn herum geht es noch immer heiß her. Henning kann sich nicht erinnern, im Laufe eines Redaktionstages je so oft den Namen seiner Schwester gehört zu haben. Und ihm geht auf, dass er sich noch gar kein Bild gemacht hat, weshalb genau ganz Medien-Norwegen so aus dem Häuschen ist.
Er ruft die Startseite seiner eigenen Zeitung auf, wo ihn riesige Lettern anspringen, darunter Fotos von Trine an einem Rednerpult und eine Bildunterschrift: »Nach dieser Rede hat Juul-Osmundsen den jungen Politiker sexuell belästigt.«
Henning klickt den Artikel an und erfährt dort, dass Trine am 9. Oktober letzten Jahres am Parteitag der Arbeiterpartei teilgenommen hat und angeblich einen jüngeren Kollegen zum Sex genötigt haben soll. »Machtmissbrauch der übelsten Art«, sagt eine Stimme, »Schande«, eine andere. Ein Dritter meint, Trine müsse angezeigt werden. Noch hat die Polizei nichts unternommen, vermutlich warten sie die erste Anzeige ab, aber ein Staatsanwalt, mit dem die Zeitung gesprochen hat, schließt nicht aus, dass man auf eigene Initiative in der Sache ermitteln werde.
Der Leitartikel ist von weiteren Ausführungen, Reaktionen, Kommentaren, Blogbeiträgen und Zitaten flankiert. Und es gibt eine Fotostrecke mit Bildern von Trine aus den letzten Jahren. Glatte Haut, dezent geschminkt, elegant gekleidet und aufrecht. Politischer Ernst im Blick.
Henning klickt sich durch die Artikel. Eine anonyme Quelle behauptet, der vorläufig noch unbenannte, aufstrebende Politiker habe erfolglos versucht, die Angelegenheit mit Trine zu besprechen und eine Entschuldigung von ihr zu erhalten. Jetzt wird darüber spekuliert, ob der Parteiapparat von den Anschuldigungen gewusst haben könnte, ohne sich darum gekümmert zu haben.
Henning blickt zu den Fernsehmonitoren hinüber. Auf einem der Bildschirme steigt Ministerpräsident Jespersen aus seinem Wagen. Die Aufnahme stammt vom frühen Morgen. Er wird aufgefordert, sich zu dem Artikel in der VG zu äußern, worauf Jespersen knapp antwortet, dass er sich vollkommen einig mit der Justizministerin sei, dass die anonymen Vorwürfe jeder Grundlage entbehrten und er zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr dazu sagen werde.
Das Bild geht zurück ins Studio, wo ein Nachrichtensprecher und ein Moderator einen Blick tauschen. Der Moderator fragt, wie ernst die Angelegenheit für die Regierung Jespersen sei.
»Extrem prekär«, antwortet der Sprecher. »Allein im vergangenen Jahr musste der Ministerpräsident mehrere Minister auswechseln, sodass immer mehr Menschen an seiner Kompetenz bei der Auswahl seiner Mitarbeiter zweifeln. Und Trine Juul-Osmundsen könnte sich als besonders großes Problem
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