Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
bevor er den Kopf schüttelt. »Der Täter könnte so oft hier gewesen sein, dass er den Menschen gar nicht mehr aufgefallen ist.«
»Oder sie «, wirft Sandland ein.
Bjarne zieht die Augenbrauen hoch. »Glaubst du wirklich, eine Frau wäre zu so etwas in der Lage?«
»Warum nicht? Man muss nicht sonderlich stark sein, um eine alte, ohnehin schon halb tote Frau zu ersticken.«
Bjarne kratzt sich an der Nasenwurzel.
»Die Heimleiterin, Vibeke Schou, war übrigens ziemlich redselig, was die Probleme hier im Haus angeht«, fährt Hagen fort. »Ich weiß aber nicht, ob das wirklich wichtig ist.«
Wieder zieht Bjarne die Stirn in Falten. »Was meinst du?«
»Also, ich habe meine Zweifel, ob das, was sie da sagt, relevant ist.«
»Im Augenblick ist alles gleich relevant. Was hat sie denn nun gesagt?«
Hagen blickt auf seine Notizen. »Frau Schou hat mir von Angehörigen erzählt, die sich über was auch immer beschwert haben, von Patienten, die anderen Patienten Sachen stehlen, von Geräten, die nicht mehr funktionieren, von verschwundenen Medikamenten …« Hagen breitet die Arme aus. »Es nahm überhaupt kein Ende mehr.« Er seufzt.
»Verschwundene Medikamente?«, fragt Bjarne.
»Ja. Genaueres weiß ich auch nicht. Sie hat aber noch etwas anderes erzählt, das interessant sein könnte. Vor einiger Zeit mussten sie eine Art Hausordnung für das Fernsehzimmer hier oben einführen.« Hagen zeigt mit dem Daumen über die Schulter.
»Was für eine Hausordnung?«, fragt Bjarne.
»In der geregelt wird, wer entscheiden darf, wann was gesehen wird. Einige Bewohner hatten wohl zu viel Macht über die Fernbedienung, was wiederum ein paar Damen gegen den Strich ging. Erna Pedersen war wohl eine von ihnen.«
Sandland spannt die Kiefer an, kann ihr Lächeln aber nicht ganz unterdrücken. »Und diese Hausordnung hat die Männer nicht gerade erfreut, denke ich?«
»Nein, vor allem einer hat sich aufgeregt …« Hagen überfliegt erneut seine Notizen. »Guttorm Tveter«, sagt er schließlich.
Bjarne sieht zu Sandland hinüber.
»Ich schaue mal, ob ich ihn finde«, sagt sie.
»Gut.«
Sandland geht an ihnen beiden und am Fernsehzimmer vorbei und biegt links vom Flur ab. Die beiden Beamten sehen ihr nach. Die Uniform scheint ihr auf den Leib geschneidert zu sein.
»Hast du was von Daniel Nielsen gehört?«, fragt Bjarne und schüttelt den Gedanken ab.
Hagen leckt sich wieder über die Lippen. »Wer ist das?«
»Erna Pedersens Hauptpfleger. Ich habe heute schon ein paar Mal versucht, ihn zu erreichen, aber er geht nicht ans Telefon und ruft auch nicht zurück.«
Hagen zieht einen weiteren Zettel aus seiner Jackentasche und überfliegt ihn, ehe er antwortet: »Nein, hier war er auch nicht.«
»Okay«, sagt Bjarne. »Dann rede ich erst noch mit den anderen. Hast du einen Vorschlag, mit wem ich anfangen soll?«
18
Trine fährt nicht mehr oft selber, es fühlt sich aber gut an, mal wieder hinter dem Steuer zu sitzen, allein. Das leise statische Brummen der Reifen auf dem Asphalt macht sie schläfrig. Sie hätte niemals gedacht, dass sie in Anbetracht der Ereignisse müde werden könnte.
Treten Sie zurück, sonst kommt alles ans Licht.
Es kommt natürlich nicht infrage, die E-Mail zu beantworten. Jedweder Mail-Verkehr würde an die Öffentlichkeit kommen. Sie hat es aber auch nicht ertragen, in ihrem Büro zu sitzen und sich alle fünf Minuten mit neuen Problemstellungen, neuen Aussagen, neuen Medienberichten und neuen Forderungen konfrontiert zu sehen. Da hätte sie klaustrophobische Anfälle bekommen. Sie musste eine Weile allein sein, außerdem hat sie den Gedanken nicht ausgehalten, sich jedes Mal, wenn sie das Gebäude verlässt, einen Weg durch das Meer der Reporter bahnen zu müssen. Solange sie nicht weiß, was sie sagen oder tun soll.
Sie hat Katarina Hatlem von der Falle erzählt, weil sie einfach jemanden brauchte, mit dem sie dieses Wissen teilen konnte, hat aber nichts über die E-Mail gesagt. Sie will nicht, dass Katarina auf eigene Faust irgendwelche Nachforschungen anstellt. Sie kann ziemlich hartnäckig sein, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat.
Katarina hat dafür gesorgt, dass Trine vor knapp einer Stunde ungesehen aus dem Justizministerium gekommen ist. Sie hat den Kulverten-Tunnel genommen, wo ein Mann sie erwartet und zu einem Leihwagen gebracht hat, mit dem sie aus der Hinterausfahrt des Gebäudes hinauf auf die Straße gelangt ist. Katarina hat ihr auch etwas zu essen
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