Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
mitbekommen, wie die Lichter ausgingen, die Finger kämpften, so kurz dieser Kampf auch gewesen sein mochte.
Sein Handy vibriert und reißt ihn aus den Gedanken. Er seufzt tief, greift aber danach. Er sieht sie geradezu vor sich, seine Mutter, in ihrer Mittagspause bei der Arbeit, während sie ihn fragt, was er so treibt und ob er nicht morgen zum Essen kommen will.
Er nimmt nicht ab. Nerv, nerv, nerv. Immer das gleiche Gequengel. Wieder und wieder. Warst du beim Arbeitsamt? Was machst du eigentlich den lieben langen Tag?
Wenn du wüsstest, denkt er. Und nein, zum Essen kann ich morgen leider nicht kommen. Ich habe andere Pläne. Eine wichtige Sache.
Wieder fällt sein Blick auf den Jungen. Er knüllt den Ausdruck zusammen und wirft ihn an die Wand, holt den USB -betriebenen Ministaubsauger heraus, hält die Spitze zwischen die Tasten und entfernt alles, was sich in den letzten Tagen dort angesammelt hat. Brotkrümel, Staub, Haare.
Als er fertig ist, schiebt er den Stuhl zurück, zieht die Schublade neben sich auf und starrt auf den geöffneten Umschlag mit dem großen, grünen G. Er nimmt ihn heraus und legt ihn neben die über Straßendosis große Schachtel voll Morphiumkapseln.
Er kann den nächsten Kampf kaum erwarten. Und dieses Mal will er ihn spüren. Dieses Mal will er sehen, wenn das Licht ausgeht.
20
Zurück in der Redaktion setzt Henning sich an seinen Platz und denkt nach. Ist er nach seinem Treffen mit Pia Nøkleby wirklich schlauer?
Man muss schon ein verdammt professioneller Lügner sein, wenn man es schafft, sämtliche Regungen seiner Gesichtsmuskeln zu unterdrücken, wenn man mit derart kompromittierenden Informationen konfrontiert wird wie sie. Aber statt nervös zu werden oder unangenehm berührt zu sein, hat Pia neugierig und wachsam reagiert.
Ist sie wirklich so abgefeimt?
Sollte das der Fall sein, muss er die Indicia-Problematik auf andere Weise angehen. Er hat auch schon eine Idee, wie.
Laut 6tiermes7 hatte ein Mann namens Andreas Kjær Dienst in der Polizeizentrale, als Jonas starb. Vielleicht erinnert dieser Mann sich an Details. Eventuell gibt es auch noch gespeicherte Informationen über den Streifenwagen, der losgeschickt wurde, um zu überprüfen, was Tore Pulli um halb neun im Markveien zu suchen hatte. Vielleicht lassen sich ja sogar die Streifenpolizisten aufspüren. Einen Versuch ist es auf alle Fälle wert, denkt er, besonders da er gerade ein wenig Zeit hat. Die Ermittlungen in dem Pflegeheim gehen nur langsam voran, und die Netzzeitungen konzentrieren sich hauptsächlich auf Trine.
Es gibt mehrere Andreas Kjærs im Telefonbuch, aber nur einer von ihnen wohnt in Oslo. Henning zieht sich in einen Raum von der Größe einer Telefonzelle zurück und wählt die Nummer. Nach zwei Klingelzeichen antwortet eine tiefe männliche Stimme.
»Hallo, ich heiße Henning Juul. Spreche ich mit Andreas Kjær?«
»Ja.«
»Hallo«, wiederholt Henning. »Ich rufe Sie an, weil Sie Teamleiter in der Operationszentrale der Osloer Polizei sind oder waren. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt. Ich arbeite dort immer noch.«
»Okay. Gut. Ich hätte da eine Frage, die vielleicht nicht ganz … nicht ganz so ohne Weiteres zu verstehen ist, aber ich hoffe, Sie haben Nachsicht mit mir. Es wäre sehr wichtig.«
Henning bekommt keine Antwort und nimmt dies als Zeichen, dass er losschießen soll.
»Am 11. September 2007 hat es in meiner Wohnung im Markveien in Grünerløkka gebrannt. Sie hatten an dem Abend Dienst in der Zentrale, und ich weiß, dass kurz bevor das Feuer bei mir ausgebrochen ist, ein Streifenwagen in den Markveien geschickt wurde.« Henning macht eine Pause, um sicherzugehen, dass der Mann ihm folgen kann.
»Ja?«, sagt Kjær zögernd. »Tut mir leid, das zu hören. Aber wieso rufen Sie mich deswegen an?«
»Weil Sie an diesem Abend Dienst hatten. Ich weiß auch, dass …«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe an dem Abend meinen Sohn verloren«, sagt Henning und räuspert sich. »Über die Tatsache hinaus, dass ich unbedingt herausfinden will, was an jenem Abend passiert ist, bin ich Journalist. Ich habe meine Quellen.«
Kjær schweigt.
Henning beschließt weiterzumachen. »Einem städtischen Ordnungsdienstmitarbeiter war mehrere Abende hintereinander ein Mann in einem Auto vor meinem Mietshaus aufgefallen. Er hat darum gebeten, eine Streife dorthin zu schicken. Klingelt da irgendwas bei Ihnen, Kjær?«
Stille.
»Der Mann in dem Auto war Tore Pulli«, fährt Henning fort, als
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