Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Polizist.
Ihr Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment explodieren, und ihr ist flau, als hätte sie Hunger, aber bei der Vorstellung, etwas zu essen, dreht sich ihr der Magen um.
»Sie und Johanne stammen beide aus Jessheim, ist das korrekt? Sagt Ihnen der Name Erna Pedersen etwas?«
Emilie reibt sich mit einem Knöchel über die Wange. »Erna Pedersen?«, fragt sie nach. »Wir hatten eine Lehrerin, die so hieß, aber der Name kommt wahrscheinlich häufiger vor, oder?«
»Sicher«, antwortet der Polizist. »Aber ich denke, dass Sie die richtige Erna Pedersen meinen. Woran erinnern Sie sich noch von Ihrer alten Lehrerin?«
»Gott, an viel zu viel«, sagt Emilie und lacht und hat prompt ein schlechtes Gewissen, weil sie angesichts von Johannes Tod nicht lachen darf. »Sie war sehr … streng, könnte man sagen. Was ist mit ihr?«
Schon wieder bekommt sie keine Antwort.
»Johanne und Sie sind in dieselbe Klasse gegangen?«
»Ja.«
»Wann hatten Sie Erna Pedersen als Lehrerin? Wissen Sie das noch?«
Emilie denkt nach. »Am Ende der Grundschule, glaube ich. Die letzten zwei, drei Jahre oder so.«
»Sind in der Zeit Klassenfotos gemacht worden?«
Emilie versucht, sich zu erinnern. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Es ist aber möglich, dass in der Sechsten eins gemacht worden ist.«
Es ist einen Augenblick lang still. »Hätten Sie vielleicht einen Abzug dieses Fotos, Emilie?«
»Ja, ich denke schon. Irgendwo.«
»Könnten Sie den für mich raussuchen?«
Emilie zögert eine Sekunde. »Natürlich kann ich danach suchen, aber …« Plötzlich geht ihr auf, wieso der Polizist danach fragt. »Ist es … Ist es Erna Pedersen, die …« Emilie legt eine Hand vor den Mund. »Ich habe in der Zeitung etwas von einer Erna Pedersen gelesen, die …« Sie bringt den Satz nicht zu Ende.
»Das ist sie«, sagt der Polizist. »Und es ist Teil unserer Arbeit abzuklopfen, ob zwischen den beiden Morden eventuell ein Zusammenhang besteht. Was nicht zwangsweise heißt, dass dem so wäre. Aber fällt Ihnen eventuell jemand aus Ihrer damaligen Klasse ein, der sowohl mit Ihrer Freundin als auch mit Erna Pedersen noch eine Rechnung offen hätte?«
Emilie versucht verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen, aber es schwirren zu viele Fragen gleichzeitig in ihrem Kopf herum. »Es gibt immer einen Lehrer, den man gerade aufs Korn nehmen will, aber das gilt für alle«, sagt sie. »Und ich kann mir nicht vorstellen …« Sie stockt wieder. »Nein, mir fällt niemand ein.«
»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte bei mir. Meine Nummer haben Sie?«
Emilie schaut kurz auf das Display des Telefons. »Ja.«
»Gut. Ich denke, das wär’s für dieses Mal. Wenn Sie so nett wären, das Klassenfoto rauszusuchen, es könnte sehr wichtig sein.«
»Ich werde sehen, was ich finde.«
»Danke. Und noch mal: Mein Beileid.«
Emilie lächelt erschöpft. »Danke.«
55
Henning ist noch nicht weit gekommen, als er eine Ausweichbucht am Straßenrand vor sich entdeckt und rechts heranfährt. Er sieht die Karte auf Trines Laptop vor sich. Das Datum in der oberen rechten Ecke.
9. Oktober stand da, wenn er sich nicht täuscht. Der Tag, an dem sie laut Presse mit beiden Füßen in den Fettnapf getreten ist. Was war das für eine Karte? Und wieso hat Trine sie auf ihren Laptop geladen?
Henning fährt weiter, hält aber an der Statoil-Tankstelle im Zentrum von Stavern gleich wieder und holt sich einen Stapel Servietten aus dem Shop. Er angelt einen Stift aus der Mittelkonsole in seinem Auto.
In der Schule haben seine Mitschüler ihn immer wegen seines Elefantengedächtnisses aufgezogen. Er hat sie jedes Mal korrigiert und ihnen erklärt, dass das bei ihm anders funktioniere als beim Elefanten. Sein Gehirn sei eigentlich eher so etwas wie ein Fotoapparat. Er mache quasi Momentaufnahmen mit den Augen und speichere die Bilder – eine Fähigkeit, die ihm als Journalist schon oft von Nutzen gewesen ist.
Henning setzt sich zurecht, schließt die Augen und beschwört das Monitorbild herauf, indem er sich zuerst auf die größeren Flächen konzentriert, die Parks und Seen. Dann beginnt er zu zeichnen. Als Kind hat er mit Vorliebe Stadtpläne gemalt. Er mochte das Gefühl von Ordnung, das sie vermittelten. Den Überblick.
Er malt die größten Straßen zuerst und dann den dicken Strich, der wie eine Art Joggingstreckenprofil aussah – oder auch wie ein bösartiges Virus unterm Mikroskop.
Als die grobe Skizze fertig ist,
Weitere Kostenlose Bücher