Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
wieder zu sich und erkannte, was er getan hatte.
Rauch steigt aus einem der Häuser auf, an denen er vorbeikommt. Der Geruch rieselt auf ihn herab, obwohl der Rauch doch aufsteigt. Er denkt an Waldbrände und was sie darüber in der Schule gelernt haben. Nach einem Waldbrand fängt alles Leben von Neuem an. Neue Pflanzen und neue Blumen wachsen aus der Asche, als drückten die Flammen die Reset-Taste, die alles zurück auf Start setzt.
Als er auf den Bahnsteig tritt, überlegt er, ob aus seiner Asche wohl auch etwas Neues erwachsen wird, wenn es so weit ist. Ob es für ihn auch eine Reset-Taste gibt.
Er ist allein. Er tritt einen Schritt näher an die Bahnsteigkante heran, blickt nach unten auf die dicken, grobkantigen Schottersteine zwischen den Schwellen und Schienen. Um ihn herum ist alles still. Er schließt die Augen, erkennt das Gefühl aus seiner Kindheit wieder. Er weiß nicht, wie lange er dort steht, wie lange es dauert, bis die Spannung aus den Schienen emporsteigt, ihn sozusagen auflädt und auf das vorbereitet, was kommen wird. Gleich darauf fängt es an zu läuten, die Warnlichter springen von Weiß auf Rot, und die Schranken verharren noch einen Augenblick in der Luft, ehe sie sich senken. Das rhythmische Läuten gerät aus dem Takt, genau wie früher, als er klein war, und es dauert etwa eine halbe Minute, bis die Schranken unten angekommen sind und das Läuten aufhört.
Aber in ihm, in seinem Kopf, läutet es weiter. Und jetzt sind im Wald Lichter zu erkennen. Als wären die Bäume die Wände eines Tunnels, der nach und nach zum Leben erwacht. Er stellt fest, dass es heute noch besser ist, dort zu stehen, so viele Jahre später, und die Gleise in der Dunkelheit glänzen zu sehen. Wie weiße, glitzernde Skispuren.
Und dann tauchen sie auf, die Augen, intensiv und verlockend, groß wie bei einem Troll. Mit Wahnsinnstempo, die Schienen werden lebendig, sie hecheln, fauchen, unheimlich und drohend, und er geht noch einen Schritt vor, spürt die Betonkante unter seinen Zehen. Der Zug kommt näher, jetzt hupt er, vielleicht hat der Zugführer ihn gesehen. Was ihn nicht davon abhält, den einen Fuß anzuheben und vor der Kante baumeln zu lassen. Es ist höchstens einen Meter bis zu der blitzenden Schiene, bis zu dem Licht, das ihn verschlingen wird.
Henning schüttelt die schmerzhaften Gedanken ab und greift nach den Servietten. Er überträgt seine erste Zeichnung auf ein DIN -A4-Blatt, gibt sich noch etwas mehr Mühe mit den Details, und es dauert nicht lange, bis vor seinem inneren Auge ein klareres Bild entsteht.
Ein Bild, das er schon einmal gesehen hat.
Er geht in die Küche, klappt den Laptop auf, gibt den Namen der Stadt in eine Suchmaschine ein und klickt die erstbeste Karte auf der Liste an. Und während sie sich langsam öffnet, sieht er, dass seine Erinnerung korrekt war.
Es ist Kopenhagen.
Henning denkt an Trines Uhr, auf der sie ablesen konnte, wie weit sie auf dem Küstenwanderweg gegangen ist. Er hat schon von Leuten gehört, die eine Art Logbuch über ihre Trainingsstrecken führen, mit Pulsuhren und Telemetern und weiß der Teufel noch für Schnickschnack. Das an ein Virus erinnernde Profil auf ihrem PC gab die Strecke an, die sie gelaufen oder gejoggt ist. In Kopenhagen. Abends um 20.17 Uhr. An ebenjenem Abend, als sie sich während des Parteitags in Kristiansand an einem jüngeren Kollegen vergriffen haben soll. An jenem Abend, von dem niemand sagen kann, ob sie beim Abendessen war oder nicht.
Das schlägt ja wohl dem Fass den Boden aus.
Die Aussage des jungen Parteipolitikers ist tatsächlich falsch. Langsam beginnt Henning zu dämmern, was hier läuft. Was der Grund dafür ist, dass der Politiker anonym bleiben will und stattdessen mit dem schwachbrüstigen Bericht eines Übergriffs kommt, den er als anonymes Fax versendet.
Die Sache ist nie geschehen.
Dieser junge Politiker existiert überhaupt nicht.
Und die Medien, die sich inzwischen damit abgefunden zu haben scheinen, kein Interview mit ihm zu bekommen, konzentrieren sich stattdessen auf alles andere, was in letzter Zeit über Trine geschrieben wurde. Die Sexgeschichte war sozusagen der perfekte Zündsatz. Der perfekte Rufmord.
Dies ist das Werk eines Experten der Medienmanipulation, der weiß, welche Knöpfe man drücken muss, um einen Erdrutsch gegen eine Ministerin auszulösen, die sich auf ihrem Weg nach oben viele Feinde gemacht hat.
Aber eines begreift Henning nicht. Wieso sagt Trine nichts? Da sie das
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