Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
fährt er weiter. Er ist sehr zufrieden mit sich selbst.
Zu Hause duscht er erst einmal ausgiebig. Während Seife und Shampoo sich in einem Schaumring um den Abfluss sammeln, denkt er an sein Talent, sich mit den Frauen zu überwerfen, die in seinem Leben eine Rolle spielen. Früher hat er es wenigstens noch geschafft, sich mit seinem Charme aus heiklen Situationen herauszuwinden, aber davon ist nicht mehr viel übrig. Stattdessen ist er von Frauen mit Problemen umgeben, Frauen, die Probleme machen oder das Problem sind. Nora, Trine, Pia, Heidi.
Liegt das nur an ihm?
Eigentlich betrifft das nicht nur Frauen, denkt er. Inzwischen hat er es fertiggebracht, die meisten gegen sich aufzubringen, und er kann nicht einmal mehr behaupten, einen einzigen echten Freund zu haben. Nach dem Brand in seiner Wohnung hat ihn nicht ein einziger in der Reha besucht, was aber auch nicht verwunderlich ist. Vor Jonas’ Tod ist er wenigstens noch ab und zu mal mit Kollegen einen trinken gegangen, aber wirklich an sich herangelassen hat er nie jemanden. Er hat nie das Bedürfnis verspürt, etwas über sich preiszugeben.
Freundschaften und Bekanntschaften sind flüchtige Phänomene. Man kommt den Menschen, mit denen man sich täglich umgibt, zwangsläufig näher. Wenn das Studium abgeschlossen ist, wenn man umzieht oder eine neue Arbeit antritt, ist man voll guter Vorsätze, den Kontakt zu seinen alten Freunden aufrechtzuerhalten. Stattdessen nehmen neue Menschen deren Platz ein, die Zeit vergeht, und es wird immer schwieriger, Anteil am Leben des anderen zu nehmen. Dabei hat das gar nichts damit zu tun, dass man einander nicht mehr mag. Das ist einfach der Lauf der Dinge.
Der Einzige, den Henning im Augenblick als so etwas wie einen Freund bezeichnen würde, müsste er wirklich einen nennen, wäre wohl Iver Gundersen. Auch wenn es Henning nicht leichtfällt, sich das einzugestehen.
Er geht halb nackt ins Wohnzimmer und bleibt vor dem Durcheinander an Bildern stehen, die auf dem Boden verteilt daliegen. Der Gedanke an Aufräumen macht ihm schlechte Laune, und er verschiebt das Ganze auf einen späteren Zeitpunkt. Jetzt will er sich erst einmal um die Kartenskizze auf der Serviette kümmern – doch dann fällt sein Blick doch auf eines der Fotos. Es ist ein Bild von Jonas, ein großes, auf dem er lächelt. Henning bückt sich und hebt es auf.
Ein hübsches Bild.
In diesem Moment kann er den Schmerz nicht unterdrücken, der in ihm hochwallt. Meistens kriegt er es irgendwie hin, an etwas anderes zu denken, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, bis sich ein neues Bild dazwischenschiebt. Aber diesmal funktioniert es nicht. Jonas ist in ihm, füllt ihn ganz aus. Seine Augen bohren sich tief in sein Inneres und schießen spitze Pfeile. Es fehlt nicht viel, dass die Beine unter ihm nachgeben.
Ich hätte mich besser in die Decke einwickeln sollen, denkt er. Ich hätte eine Sekunde länger nachdenken sollen, nur eine Extrasekunde, vielleicht hätten die Flammen dann woanders zugepackt. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen, vielleicht hätten seine Augen sich dann nicht verklebt, er hätte ordentlich sehen können, ehe er auf das Geländer kletterte und genau in dem Augenblick ausrutschte, als er eigentlich zum rettenden Sprung ansetzen wollte. Alles hätte anders kommen können. Und Jonas wäre noch am Leben.
Henning unterdrückt einen Schluchzer, während er das Foto betrachtet. Du solltest an der Wand hängen, sagt er zu dem Bild seines Sohnes. Schon lange. Aber ich ertrage es nicht, dich dort zu sehen. Verzeih mir, mein kleiner Freund, aber ich ertrage das nicht.
Es grollt vor dem Fenster. Er sieht hinaus, und sein Blick sucht nach etwas anderem als schwarzen Gewitterwolken – irgendetwas, woran er sich festhalten kann. Schweiß rinnt ihm zwischen den Schulterblättern hinab. Aber das Einzige, was nass wird, sind seine Augen.
56
Seine Beine fühlen sich merkwürdig weich an, als er über den Asphalt geht, den er in der Dunkelheit nur erahnen kann. Von vorne kommen die Scheinwerfer eines Autos auf ihn zu. Er tritt auf den Randstreifen und senkt den Kopf. Er will nicht, dass jemand sieht, dass er zu Hause war.
Zu Hause.
Wo ist eigentlich sein Zuhause? Sie werden kommen und seine Wohnung räumen. Und im Hinblick darauf, was er gerade mit seiner Mutter und seinem Vater getan hat, kann er auch dorthin nie wieder zurück.
Seltsam, denkt er, dass man etwas tun kann, ohne es zu sehen. Erst als die Vitrine laut krachte, kam er
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