Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
Küche. Schaffleisch und Kohl, Pfeffer und Kartoffeln. Der Geruch von Fårikål lässt ihm normalerweise das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch jetzt wird ihm übel davon.
»Wie schön, dass du trotzdem gekommen bist«, ruft sie, als sie ihn von sich wegdrückt und ansieht.
Und alles ist in Ordnung, bis er in den Raum kommt, der Kerl, der sich Papa nennt. Er sagt nichts, bleibt nur vor dem Spiegel stehen, wo früher das Telefon stand. Als sie das schnurlose Telefon noch nicht hatten. Der Fußboden knirscht an dieser Stelle besonders schlimm.
»Hast du nicht gesagt, er würde nicht kommen?«, sagt er, an seine Frau gewandt.
»Hab ich, aber er hat es sich anders überlegt, ist das nicht nett?«
»Hätte er das nicht sagen können?«
Sie versucht, etwas zu sagen, aber ihn erreichen keine Worte, ehe er mit schweren Schritten an ihm vorbeiläuft. Kein Willkommensgruß, keine ausgestreckte Hand.
Auch jetzt nicht.
»Ich hoffe, du hast Hunger«, sagt sie, geht in die Küche und signalisiert ihm, ihr zu folgen. »Guck mal«, ruft sie und zeigt auf einen Topf. Er nickt und sieht sie an.
Alles ist wie früher, und alles ist anders.
Etwas später setzen sie sich hin und beginnen zu essen. Aber er kann kaum schlucken. Er denkt an alles, was in diesen Räumen gesprochen worden ist, daran, wie wenig das war.
»Gibst du mir das Salz?«
Er sieht zu dem Kerl hinüber, der sich Papa nennt. Reicht ihm den Salzstreuer und kippt dabei sein halb volles Glas um. Das Wasser läuft über die Tischdecke und tropft auf den Boden. Ein Messer und eine Gabel knallen auf der anderen Seite des Tischs auf den Teller, gefolgt von einem Bellen. »Hast du vor, einfach da sitzen zu bleiben?«
Er antwortet nicht. Die Mutter neben ihm springt auf, reißt ein paar Blätter von der Küchenrolle und presst sie auf das Tischtuch.
Tiefes Seufzen und verächtliches Schnauben.
»Sitzt wie ein Ölgötze da. Willst du dich nicht wenigstens entschuldigen?«
Er hebt langsam den Kopf und sieht ihn an. Wortlos.
»Was ist? Willst du dich nicht entschuldigen?«
Nein, denkt er innerlich. Jetzt nicht mehr.
Im nächsten Augenblick steht der Vater auf. Hart und abrupt, sodass die Stuhlbeine über den Boden schrillen. Seine Serviette landet zusammengeknüllt neben dem Teller.
Etwas legt sich über seine Augen. Und als er eine kräftige Hand auf seiner eigenen spürt, sieht er nicht mehr klar. Er tut es einfach.
Tut es.
Tut es.
54
Emilie hat im Lauf ihres Lebens schon einige Todesnachrichten erhalten. Aber selbst der größte Schmerz, den sie je beim Verlust eines Menschen empfunden hat, kann sich in nichts mit dem messen, was sie in diesem Augenblick empfindet. Es ist etwas anderes, wenn jemand ermordet wird. Und was sie am meisten quält, ist die Vorstellung davon, was Johanne in dem Augenblick durch den Kopf gegangen ist, als sie begriffen hat, dass sie sterben muss.
Emilie hat sich ins Schlafzimmer zurückgezogen und die Tür zugemacht. Sie erträgt jetzt keine Gesellschaft. Kann über nichts anderes mehr nachdenken als darüber, wer ihre beste Freundin, mit der sie über alles reden konnte, umgebracht hat. Sie denkt an die schönen Dinge, die sie zusammen erlebt haben, und wie unfassbar es ist, dass sie all dies nie wieder zusammen unternehmen werden.
Es klopft an der Tür. Mattis tritt ein, ohne dass sie ihn hereingebeten hat. »Die Polizei«, sagt er und reicht ihr das Telefon. »Sie wollen dich sprechen.«
Emilies Magen zieht sich bei der Vorstellung zusammen, mit irgendwem reden zu müssen. Sie richtet den Oberkörper halb auf. Mattis kommt ihr entgegen, überreicht ihr das Telefon, lächelt unsicher, freundlich.
Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, ihre Wangen glühen, sie nimmt den Hörer entgegen, wartet aber, bis Mattis die Tür hinter sich zugezogen hat.
»Hallo, hier spricht Bjarne Brogeland von der Osloer Polizei.«
»Hallo«, antwortet sie leise.
»Wenn ich Ihnen zuerst mein Beileid aussprechen darf«, sagt er. »Ist es richtig, dass Sie eine von Johanne Klingenbergs engsten Freundinnen waren?«
»Ja«, stammelt Emilie. »Das war ich. Danke.«
»Tut mir leid, dass ich Sie jetzt anrufe, aber ich muss Ihnen dringend ein paar Fragen stellen.«
»Schon klar«, sagt sie und setzt sich etwas bequemer hin. Er hat eine nette Stimme, denkt sie. Warm und vertrauenerweckend.
»Sie haben sich heute Mittag mit Johanne in einem Café getroffen, ist das richtig?«
»Ja, im Café Blabla am St. Hanshaugen.«
»Wie war sie, als Sie
Weitere Kostenlose Bücher