Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
fortlaufend mit der Liste der Personen abgeglichen, die in Kontakt mit beiden Opfern gestanden haben. Zudem wird die Überwachung von Pedersens Sohn samt Familie sowie der Familie Blomvik angeordnet – bei Letzterer mit besonderer Bewachung des zweieinhalbjährigen Sohns Sebastian.
Dieses Detail will Bjarne Brogeland Emilie Blomvik nicht mitteilen, als er sie unten im Erdgeschoss empfängt. Es ist inzwischen zehn Uhr, und er besorgt ihr einen Besucherausweis, den sie sich an ihre dunkelblaue Herbstjacke heftet, ehe er sie durch die Sicherheitskontrolle und bis in sein Büro in der sechsten Etage führt.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er, als sie Platz genommen haben.
Blomvik zögert. »Ich habe heute Nacht nicht besonders gut geschlafen, um es mal so zu sagen.«
Sie lächelt müde. Ihre Wangen sind blass.
»Dann hatten Sie Zeit nachzudenken?«, fragt Bjarne aufmunternd.
»Ich habe eigentlich die ganze Nacht nichts anderes gemacht«, antwortet sie und schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Aber ich habe wirklich keine Ahnung, wer ihr das angetan haben kann.«
»Kein Exlover, der einen Grund hätte, auf Johanne wütend zu sein? Vielleicht wegen einer Sache, die sich vor längerer Zeit zugetragen hat?«
Blomviks Mundwinkel ziehen sich nach unten. »Ich weiß es nicht … Johanne hatte Hunderte Lover, natürlich nicht wörtlich genommen. Aber es ist natürlich denkbar, dass einige davon mehr an ihr interessiert waren als umgekehrt. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass das in einer solchen Wut kulminieren kann. Wie ich Ihnen schon gestern gesagt habe: Es ist lange her, dass Johanne mit irgendjemandem fest zusammen war.«
Bjarne nickt und rückt etwas näher an den Tisch heran, während Emilie Blomvik ihre Hand in die Tasche steckt. »Das ist das Einzige, was ich gefunden habe«, sagt sie und legt ein Bild vor Bjarne. »Es ist aus der sechsten Klasse.«
Bjarne nimmt das Bild und studiert es gründlich. Eine deutlich jüngere Ausgabe von Erna Pedersen steht außen links. Sie ist ein ganzes Stück größer als der Rest.
»Das ist Johanne«, sagt Blomvik und zeigt auf ein kleines Mädchen mit ausgeprägten Grübchen und langen Zöpfen. Sie sitzt auf einem Stuhl ganz vorn. »Und das neben ihr bin ich.«
Bjarne hebt den Blick und sieht die Scham in ihren Augen.
»Es ist einige Jahre her«, sagt sie entschuldigend.
Bjarne studiert weiter Gesicht für Gesicht. Keinerlei Ähnlichkeit mit irgendjemandem, den er in den letzten Tagen getroffen hat.
»Erinnern Sie sich noch an die Namen Ihrer Mitschüler?«, fragt Bjarne und schiebt das Bild zu ihr zurück. Dann reicht er ihr ein leeres Blatt Papier und einen Stift.
»Ich kann es versuchen«, sagt Blomvik.
»Beginnen Sie mit der ersten Reihe von links.«
Sie nickt und beginnt zu schreiben. Von einigen der Schüler weiß sie nur noch die Vornamen, doch von den meisten in der ersten Reihe kennt sie die vollen Namen.
Dann hebt sie den Blick.
»Gestern haben Sie mich gefragt, ob jemand einen Grund haben könnte, auf meinen Sohn wütend zu sein«, sagt sie. »Auf Sebastian.«
Bjarne nickt.
»Warum haben Sie das gefragt?«
Bjarne zögert eine Sekunde, ehe er eines der Tatortfotos aus einer Mappe heraussucht. »Dieses Foto wurde gestern Nachmittag in Johannes Wohnzimmer aufgenommen«, sagt er. »Wie Sie sehen, wurde das Bild Ihres Sohnes kaputt geschlagen … zumindest das Glas.«
Blomvik sieht auf das Foto hinab. »Warum sollte jemand auf einen kleinen Jungen wütend sein? Und dass Johanne etwas damit zu tun haben soll, das ist …« Sie schüttelt den Kopf.
Bjarne lässt ihr Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie kommt jedoch zu keinem Ergebnis. Sie richtet ihren Fokus wieder auf das Klassenfoto, und ein paar Minuten später legt sie den Stift weg. »So, ich glaube, das dürften alle Namen sein.«
»Wunderbar.« Er zieht den Zettel zu sich. Studiert die Namen und Gesichter. In der ersten Reihe erkennt er keinen Namen wieder. Ebenso wenig in der zweiten.
In der hinteren …
Nein.
Er flucht innerlich. Dass sie nicht ein Mal Glück haben konnten! Dann denkt er an seine eigene Schulzeit und in wen er damals verliebt war. Anfangs waren es Mädchen in seinem Alter, doch irgendwann wurden sie jünger, ein oder zwei Jahre. Auf der weiterführenden Schule war er lange Zeit schwer in Henning Juuls kleine Schwester verknallt. Und auch für die Mädchen war es nicht eben ein Aushängeschild, mit jemand Gleichaltrigem zusammen zu sein. Er sollte schon
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