Verleumdung
schon immer gewusst, dass er etwas anderes – und mehr – erreichen wollte als seine Eltern; dass er nicht für dasselbe Dasein geschaffen war wie sie.
Er hatte nie genug Phantasie besessen, um sich auszumalen, welche Form dieses andere Leben konkret haben sollte. Nicht, ehe er Lex traf.
Dienstag, 6. Juli
9
A n diesem Abend wollte sie ihm ein Gesicht geben. Schon morgen sollten die anderen direkt in die Augen des Toten schauen.
Linnea sah sich um. Die Umgebung des Panum Instituts lag verlassen da. Außerhalb der normalen Bürozeiten arbeitete in der Abteilung für Forensische Anthropologie kaum noch jemand. Jetzt war außer ihr niemand mehr da, was ihr sehr zupasskam. Bei ihrer kleinen abendlichen Forschungsexpedition hatte sie lieber keine Zuschauer. Sie hatte kurz überlegt, Parani, einen der Doktoranden am Institut, zu bitten, ihr zur Hand zu gehen. Er hätte sicher nichts lieber getan, als einen seiner freien Abende für sie zu opfern. Sie war jedoch zu der Einsicht gelangt, dass es besser war, niemanden in die Sache hineinzuziehen. Sie trat ihre Zigarettenkippe am Boden aus und steuerte wieder auf den Haupteingang zu.
Das war nur eine Stresszigarette, sonst nichts, redete sie sich ein. Während sie ihre Karte durch das Lesegerät neben der Tür zog, spürte sie, wie das Nikotin direkt in ihr Gehirn stieg. Sie gab den Code ein, den sie gegen alle Vorschriften mit wasserfestem Filzstift auf die Karte geschrieben hatte, ging dann durch die Glastür und fuhr mit dem Lift nach oben. Dort angekommen, hielt sie kurz inne und lauschte, konnte jedoch nichts hören. Sie betrat das vorläufige Büro, das sie sich hatte einrichten dürfen, für die Zeit, in der sie nicht in den Obduktionssälen des Rechtsmedizinischen Instituts nebenan beschäftigt war. Sie machte es sich vor dem Computer bequem und horchte noch einmal, ob sie auch wirklich allein war.
Linnea plante, sich in einen der Institutscomputer einzuhacken, um ein illegales Programm zu installieren. Obwohl ihr Ziel im Großen und Ganzen legitim war, war es der Weg dorthin nicht unbedingt. Würde sie erwischt, dann hätte sie eine Dienstbeschwerde zu befürchten, und das war das Letzte, was sie derzeit gebrauchen konnte. Sie beugte sich über den Computer und gab einen persönlichen Zugangscode ein, den sie bei einem Mitarbeiter aus der EDV erspäht hatte, als dieser ihren Netzwerkzugang eingerichtet hatte. Der Code war noch immer gültig. Jetzt hatte sie Zugang zum Server und konnte installieren, wozu sie Lust hatte. Und wenn sie darauf achtete, das Programm anschließend zu deinstallieren und ihre Spuren zu beseitigen, musste schon jemand großen Eifer an den Tag legen, um zu beweisen, was sie angestellt hatte.
»Die anderen werden ganz schön Augen machen«, murmelte sie vor sich hin.
Der einzige Anhaltspunkt der Polizei war das Skelett einer männlichen Person, die nicht nur ermordet, sondern vorher möglicherweise auch gefoltert worden war. Darüber hinaus hatten sie nicht die geringste Spur. Die einzig reelle Chance zur Aufklärung bestünde darin, dass der Tote mit einer vermissten oder gesuchten Person identisch war. In diesem Fall hätte die Polizei immerhin eine Identität und damit einen Anhaltspunkt für die weiteren Ermittlungen. Linnea wusste jedoch, dass sie bisher noch keine passenden Kandidaten im Register entdeckt hatten. Auf die Antwort von Europol und den nordischen Kooperationspartnern wartete man noch, und es würde selbst im besten Fall noch eine Weile dauern. Spätestens morgen wären die Kollegen von der Polizei verzweifelt auf der Suche nach der noch so kleinsten Spur, und dann wäre Linnea passenderweise mit den Ergebnissen ihrer heimlichen Arbeit fertig.
»Müsste Ihre Schicht nicht längst vorbei sein?«
Linnea zuckte zusammen und drehte sich hastig um, während sie sich innerlich dafür verfluchte, nicht wachsam genug gewesen zu sein. Der Mann, der sich von hinten angeschlichen hatte, hieß Gustav Willy Eriksen. Die Festangestellten nannten ihn nur GW. Er war schon seit einer halben Ewigkeit forensischer Anthropologe. Soweit sie wusste, sollte er jetzt eigentlich genau wie die meisten anderen Institutsmitarbeiter Urlaub haben. Aber vielleicht gehörte er zu jenen, die kein Privatleben hatten oder einfach nicht von ihrer Forschung lassen konnten.
Er schnüffelte demonstrativ.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie rauchen.«
»Tue ich auch nicht, jedenfalls nicht richtig.«
Sie ärgerte sich, dass sie überhaupt
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