Verleumdung
darauf einging und sich rechtfertigte. Dann wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu, um schnell das Fenster zu verkleinern. Doch GW legte bereits seine Hand auf ihre, damit sie die Maus nicht mehr bewegen konnte. Sie registrierte, dass die Haare auf seinem Handrücken dieselbe graue Farbe hatten wie sein Bart.
»Sollten Sie mir nicht lieber erzählen, womit Sie hier so eifrig beschäftigt sind?«
Linnea sah zu ihm auf, plötzlich müde und genervt. Genervt von sich selbst, weil sie unbezahlte Überstunden anhäufte, um andere mit ihren Fähigkeiten zu beeindrucken, und genervt von alten Chauvis wie GW, die darüber entscheiden durften, ob sie ihren Job behielt oder nicht.
»Das Skelett vom Lammefjord«, begann sie dann und beschloss, ihm alles zu erzählen. »Die Polizei tappt im Dunkeln, und ich habe das Gefühl, dass der leitende Ermittler meine Arbeit als reine Zeitverschwendung ansieht. Ich weiß genau, was er von mir denkt: dass ich garantiert nur eingestellt wurde, weil sich hier irgendeine frigide Büromaus besonders für die Frauenquote eingesetzt hat. Irgend so was in der Art. Aber jetzt habe ich eine Idee, die die Ermittlungen voranbringen könnte.«
Sie zögerte einen Moment.
»Kraniofaziale Rekonstruktion!«, sagte sie dann.
GW nahm seine Hand von ihrer und stützte sich am Schreibtisch ab. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er bei dieser Sommerhitze ausnahmsweise nicht die Thermoweste trug, die ansonsten – zusammen mit einer protzigen Rolex – zu seinem Standardoutfit gehörte.
»Schießen Sie los«, sagte er. »Machen Sie mich klüger.«
10
S treng genommen ist das illegal«, sagte Eileen Manheim, ohne Linnea überhaupt zu begrüßen. »Darüber bist du dir schon im Klaren, oder?«
»Warum sollte ich sonst warten, bis ich allein am Institut bin, ehe ich dich anrufe?«
Linnea warf GW, dessen Miene man am ehesten als abwartend beschreiben konnte, ein schiefes Lächeln zu, während sie weiter telefonierte.
»Ich weiß nur, dass du mir einen Riesengefallen schuldig bist, Schatz. Und dass ich eine großzügige Belohnung erwarte.«
Linnea ertappte sich dabei, wie sie rot wurde. Sie hatte gerade Skype geöffnet und beim GDU Faces Laboratory angerufen. Das Labor befand sich in Virginia an der amerikanischen Ostküste, und wenn sie die Zeitverschiebung halbwegs richtig einschätzte, musste es dort jetzt früher Nach-
mittag sein. Der neckische Tonfall in Eileens Stimme war nicht zu überhören. Sie war immerzu am Flirten und hatte sich Linnea gegenüber noch nie anders verhalten. Eileen Manheim war Doktor der Forensischen Anthropologie und hatte mehr als zwanzig Jahre Berufserfahrung. Sie behauptete von sich, an mehr als tausend Ermittlungen beteiligt gewesen zu sein. Sowohl die örtliche als auch die nationale Polizei in den USA profitierten von ihren besonderen Fähigkeiten. In den letzten Jahren war sie Abteilungsleiterin beim GDU Faces Laboratory gewesen, einem privaten Dienstleister, der sich auf die forensisch-anthropologische Forschung spezialisiert hatte und Aufgaben für Polizei, Versicherungsunternehmen und andere Kunden übernahm. Doch Linneas Bekanntschaft mit ihr reichte weiter zurück, in eine Zeit, als Eileen an der University of Oklahoma gelehrt hatte. Damals hatte sie schnell von den Gerüchten erfahren, dass Eileen Manheim berüchtigt dafür sei, ihre Studentinnen anzubaggern. Die Dozentin war charismatisch, sah trotz ihrer knapp fünfzig Jahre wahnsinnig gut aus. Es hatte immer Spekulationen darüber gegeben, wen sie am Ende tatsächlich erobert hatte. Bei Linnea hatte sie es einmal erfolglos versucht, tat seither aber ganz selbstverständlich so, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis Linnea ihrem Charme erlag.
»Vermutlich hat es einige Updates gegeben, seit du zum letzten Mal mit dem Programm gearbeitet hast, aber nichts, was zu größeren Problemen führen dürfte. Und sei nicht enttäuscht, wenn nicht gleich ein Ergebnis dabei herauskommt. Du weißt ja, was ich immer sage: Eigentlich müsste es eher kraniofaziale Approximation heißen anstatt Rekonstruktion. Das hier ist Kunst, keine Wissenschaft.«
»Ist aber verdammt nah an der Wissenschaft dran!«
Linneas Bemerkung rief ein glucksendes Lachen am anderen Ende der Leitung hervor. Eileen wusste besser als jede andere, wovon sie sprach. Sie war Imaging Specialist und hatte erst kürzlich ein Programm für die computergesteuerte Einschätzung von Alterungsprozessen entwickelt. Mit anderen Worten ein Werkzeug, mit dem
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