Verleumdung
noch nie! Und dann auch noch genau jetzt, wo sie die Leiche oben im Lammefjord gefunden haben. Das kann kein Zufall sein. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie gefährlich dieser Mann ist?«
Lex setzte sich neben ihn, fasste ihn an den Schultern und fixierte seinen Blick.
»Jetzt reiß dich bitte mal zusammen und hör auf damit, immerzu Gespenster zu sehen! Für so was fehlt uns die Zeit. Ich habe dir hier die Bestellungen zusammengesucht.«
Sie schob ihm einen Stapel Papiere hin.
»Übermorgen bin ich wieder da. Also beruhige dich um Himmels willen erst mal wieder und kümmere dich um deine Arbeit.«
Ihre Stimme wurde sanfter, als sie aufstand. Sie beugte sich herunter und küsste ihn – auf die Wange.
»Es gibt keinen Grund, Angst zu haben, Jonas. Wir stehen das zusammen durch, ja?«
Er lächelte sie angestrengt an. Sie nahm ihre Mappe und verließ die Küche. Der Klang ihrer Absätze hallte noch im Haus wider, als ihr Citroën schon längst auf den Skovridergårdsvej abgebogen war.
11
A m meisten verbreitet sind Zeichnungen oder Modelle aus Ton. Dabei geht man von der Schädelform aus und baut allmählich ein Gesicht auf, indem man Muskeln und Weichteile hinzufügt.«
»Jaja, das kenne ich. Man schneidet kleine Hölzchen aus, deren Länge einem durchschnittlichen Weichteil an einem bestimmten Bezugspunkt entspricht. Dann befestigt man sie am Schädel und formt so Stück für Stück die Gesichtszüge.«
Linnea nickte GW zu. Seit sie gemeinsam vor dem Computer saßen, hatte er eine Wandlung durchlaufen. Seine unterschwelligen Drohungen, weil sie sich in den Institutsserver eingehackt hatte, waren mit einem Mal wie weggeblasen, nun, da ihn der wissenschaftliche Eifer gepackt hatte. Natürlich hatte er schon von dem Programm gehört, und jetzt wollte er unbedingt erfahren, was Linnea damit zustande brachte. Derzeit fütterte sie den PC fieberhaft mit Daten, die Cranio Construct 3.0 verarbeiten konnte. Als Grundlage diente die Röntgenaufnahme des Schädels, die sie bereits angefertigt hatte, um ihn eingehender auf Frakturen zu untersuchen, und die sie nun als Ausgangspunkt für die eigentliche Rekonstruktion des Kopfes verwenden konnte.
»Normalerweise erfordert das sowohl anatomisches Wissen als auch künstlerisches Geschick«, erklärte sie weiter. »Davon abgesehen, dass der Prozess, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich zeitaufwendig ist.«
»Und kostspielig.«
Linnea nickte.
»Aber nicht mit Cranio Construct. Es ist schneller, einfacher und billiger, und nicht zuletzt präziser, weil ein Großteil der Arbeit von dem Programm selbst ausgeführt wird. Jetzt hängt die Präzision also nicht mehr nur vom Wissen und Können des Anwenders ab, sondern lediglich von den im Voraus bestimmten Elementen.«
Sie zeigte auf den Bildschirm, wo das Programm gerade die Skelettmaße, ihre Berechnungen zu Geschlecht und Alter, ethnischer Zugehörigkeit sowie der Lagerungszeit verarbeitete. All die Messungen und Analysen, mit denen sie in den letzten zwei Tagen eifrig beschäftigt gewesen war.
»Nase, Wangen, Augen, Kinn. Das alles wird aus meinen Messungen generiert – und den Berechnungen des Programms zum durchschnittlichen Aufbau im Verhältnis zur speziellen Schädelstruktur.«
GW starrte gebannt auf das Bild. Doch es würde noch lange dauern, bis die Arbeit vollendet wäre, und er konnte sich ein erstes Gähnen nicht verkneifen. Dann schaute er auf seine Uhr und stand widerstrebend auf, um nach Hause zu gehen. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines kleinen Jungen, der nichts lieber wollte, als mit seinem neuen Spielzeug zu spielen, aber plötzlich einsah, dass er zu müde war, um es zu begreifen.
»Ich werde das Bild mailen, sobald es fertig ist.«
GW nickte dankbar und verließ das Büro. Linnea überlegte kurz, ob sie noch eine weitere Zigarette rauchen sollte, aber allein der Gedanke daran bereitete ihr Übelkeit. Sie hatte an diesem Abend schon mehr als genug geraucht, und sie knüllte das Päckchen mit den restlichen Zigaretten demonstrativ zusammen und warf es in den Papierkorb.
Sie stand auf, räkelte sich und begann dann erneut, den Schreibtisch zu durchsuchen. In der dritten Schublade fand sie schließlich den kleinen Gegenstand, den sie neben dem Toten im Lammefjord gefunden hatte. Als sie am Sonntag ins Institut zurückgekehrt war, hatte sie ihn verärgert in eine der Schubladen geworfen. Richard Bodilsen hatte noch immer niemanden geschickt, um ihn zu holen – was sie nicht sonderlich
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