Verleumdung
überraschte. Doch obwohl der Fund an ihrer Blamage schuld war, stellte er zweifelsohne eine relevante Spur dar. Sie wusste nicht, was die Männer von der Spurensicherung sonst noch am Fundort entdeckt hatten, denn das gehörte nicht zu ihrem Aufgabengebiet. Trotzdem erschien es ihr merkwürdig, welch geringes Interesse die Tontafel hervorrief. Natürlich hätte sie rein zufällig in das Grab geraten sein können und musste nicht unbedingt etwas mit dem Toten zu tun haben. Aber garantiert war das merkwürdige Desinteresse auch der Tatsache geschuldet, dass sie sich blamiert hatte, als sie diesen Gegenstand für wichtig befunden hatte. Die Tontafel war kein ernstzunehmender Bestandteil der Ermittlungen geworden, sondern nur noch ein Dauerwitz.
Mit einem Pinsel entfernte sie die letzten Erdreste von der Tafel. Am Nachmittag hatte sie ein wenig im Internet gesurft und Belege für ihre Vermutung gefunden, dass es sich um eine Tontafel mit Keilschrift handeln könnte. Auf der einen Seite befand sich eine Art Zeichnung, die sie nicht erkennen konnte, auf der anderen die besagte Schrift. Wenn die Tafel tatsächlich echt war, konnte sie bis zu viertausend Jahre alt sein. Verrückt, sich das vorzustellen. Ganz abgesehen von der Frage, wie dieser Gegenstand neben einen toten Mann im Lammefjord gelangt war. Sie holte ihren Blackberry hervor, legte die Tafel auf ein weißes Stück Papier und fotografierte sie von beiden Seiten. Die Kamera hatte fünf Megapixel, und die Bilder dürften scharf genug sein, damit ein Experte eine vorläufige Einschätzung vornehmen konnte, wenn sie ihm die Aufnahmen mailte.
Sie warf einen prüfenden Blick auf Cranio Construct, aber das Programm verarbeitete immer noch die Daten. Linnea starrte eine Zeitlang auf den Monitor, bis ihr irgendwann auffiel, wie untätig sie dasaß. Trotz Kaffee und Nikotin war sie todmüde, und vielleicht würde es nichts schaden, für einen Moment die Augen zu schließen. Sie überlegte kurz, zu dem Sofa zu gehen, das im Flur vor einem der Personalräume stand. Aber sie hatte keine Lust, einem Wächter zu begegnen, der gerade seine nächtliche Runde drehte. Außerdem wollte sie ja ohnehin nicht richtig schlafen, sondern sich nur kurz ausruhen. Also räumte sie die Papiere auf dem Computertisch beiseite und stützte ihren Kopf auf den Arm.
»Lass mich nur kurz sehen, wer du bist«, sagte sie ungeduldig.
Einen Augenblick später schlief sie tief und fest.
*
Die alte Chinesin gluckste auf ihrem Sessel in einer Ecke des dunklen Zimmers. Gegenüber saß die Tochter ihres Sohnes. Sie sprachen nicht viel miteinander, sondern stöhnten vor allem über die schwüle Hitze, bei der einem die Kleidung am Leib klebte und gegen die auch die moderne Klimaanlage der Seniorenresidenz nichts ausrichten konnte. White Oaks war die beste Einrichtung, die der Staat Mississippi auf dem Gebiet der Altenpflege zu bieten hatte. Obwohl die blinden Augen der alten Yun Li Wu das beeindruckende Naturpanorama nicht sehen konnten, das sich vor ihren Fenstern entfaltete, wirkte sie äußerst zufrieden. Ihre Enkelin hatte dafür gesorgt, dass sich das Personal in den langen Zeiträumen, in denen sie nicht zu Besuch kommen konnte, ganz besonders um die alte Frau kümmerte.
Auf dem Tisch stand eine halbleere Flasche Stolitschnaja, daneben zwei Wassergläser. Ab und zu hob die junge Frau ihr Glas zu einem Gruß in Richtung der Alten. Doch erst, wenn sie »Prost, Oma!« sagte, kam Leben in die andere. Sie tastete sich langsam zu dem zweiten Glas vor und führte es zum Mund, ohne dabei auch nur einen Tropfen zu vergießen. Dann nahm sie einen beherzten Schluck, lächelte zahnlos und knurrte ihrer Enkelin zu: »Prost, mein Schatz, und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Mögest du für immer …«
Der letzte Satz ging in einer wirren Mischung aus chinesischen und englischen Worten unter.
Dieser Wortwechsel wiederholte sich ohne große Variationen etwa jede halbe Stunde. Ihre festliche Stimmung an diesem Tag dauerte für gewöhnlich von morgens bis abends. Das war ein Ereignis, dem beide Frauen das ganze Jahr über entgegensahen. Keine von ihnen verlor große Worte, aber sie genossen die Anwesenheit der anderen, während sie so dasaßen und ihren Gedanken nachhingen. Die Alte war vor allem von ihren Erinnerungen eingenommen, die so wunderbar lebendig wurden, wenn man sie mit etwas Wodka ankurbelte. Die Junge saß mit etwas, das einem feinmechanischen Puzzle glich, in ihrem Sessel, und reinigte
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