Verleumdung
Kokains zu sehen, das sich die Feiernden offenbar reingezogen hatten. Irgendjemand würde auf jeden Fall für diese Sache aufkommen müssen.
Erst als Jonas im Zimmer 212 angekommen war und seine Last auf dem zerwühlten Bett ablegte, bemerkte er, dass es ausgerechnet der Sonnenbrillenkerl war, der ihm am Abend zuvor gedroht hatte. Er konnte sein Glück kaum fassen, zog schnell den Zimmerschlüssel von der Tür ab und eilte zu der Hütte zurück, wo er ihn halbwegs sichtbar unter ein Sofakissen legte. Am nächsten Tag wurde der junge Mann gegen Mittag nach Hause geschickt, gedemütigt und mit einer beträchtlichen Zusatzrechnung im Gepäck. Jonas war erleichtert, und als Lex ihn ein paar Tage später in der Bar besuchte, begriff er, dass seine Glückssträhne weiter anhielt. Sie war selbstbewusst, stilsicher und kultiviert, und er war ihr aufgefallen. Ausgerechnet er! Sie lächelte ihn vielsagend an, als hätte sie genau durchschaut, was passiert war, und nahm ihn zur Seite.
»Ich liebe Männer, die sich zu wehren wissen«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Sollten wir beide uns nicht etwas besser kennenlernen?«
Dann befragte sie ihn eingehend über seine Zukunftspläne, Hobbys und politischen Ansichten, bevor sie ihn zu sich auf die Hütte einlud. Er war nervös und unsicher gewesen, hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, aber merkwürdigerweise schien sie mit seinen Antworten zufrieden. Er selbst war verwirrt, fühlte sich aber eindeutig zu ihr hingezogen. Ihr offenes Wesen und die untrüglichen Zeichen dafür, dass sie aus gutem Hause stammte, waren vielleicht genau das, worauf er gewartet hatte. Und es hatte nicht lange gedauert, bis er ihr hoffnungslos verfallen war.
Lex entsprach nicht allein nahezu all seinen Vorstellungen von einer Traumfrau. Sie wollte ihn sogar haben. Und sie sagte es ihm ohne Umschweife. Er hatte das Gefühl, eine völlig neue Welt betreten zu dürfen: die Welt schöner Menschen, die ein unkompliziertes Leben führten. Lex half ihm, sich in der fremden Umgebung angemessen zu verhalten. Er war ihr für ihre kleinen Stichworte und ihr anerkennendes Zwinkern dankbar, wenn sie sich durch ein ganzes Champagner-Dinner gegessen hatten, ohne dass seine Herkunft zur Sprache kam. Es wurde ihr gemeinsames Projekt, die Geschichte von Lex & Jonas aufzubauen. Und damals kam es ihm nicht wie eine Lüge vor, wenn Lex nur ausweichend auf direkte Fragen nach ihrem Wohnort antwortete oder danach, wie sich Studium und Karriere entwickelten.
Erst als er zum letzten Mal aus dem Irak zurückkehrte, fielen ihm die Unwahrheiten auf. Es gab mehrere Dinge in Lex’ Leben, über die sie nicht gern sprach. Ihr Vater war beispielsweise völlig tabu, sowohl seine Arbeit als auch sein Aufenthaltsort. Und die Geschichten, die Lex anderen Menschen über ihn erzählte, variierten stark, je nach Situation. Jonas hatte schnell gelernt, keine Fragen zu stellen, und war inzwischen routiniert darin, zur jeweiligen Version zu improvisieren. Immerhin befriedigte dieses Schauspiel ein wenig seinen Wunsch, sie zu beschützen. Es bot einen Ausgleich in einem Alltag, in dem Lex immer wusste, was sie wollte, und Jonas nur selten eine Meinung vertrat.
Er erinnerte sich daran, wie froh, ja fast exaltiert sie gewesen war, als sie gemeinsam entschieden, dass er sich für den Auslandseinsatz im Irak bewarb. Bis zu diesem Punkt war er eigentlich ganz zufrieden mit seiner militärischen Ausbildung und seinen Aufgaben gewesen. Er hatte nie ein größeres Bedürfnis verspürt, in den Krieg zu ziehen. Erst Lex hatte ihm die Augen dafür geöffnet, welch gute Chancen für eine Beförderung ein solcher Auslandseinsatz bot. Sowohl innerhalb des Militärs als auch in der Privatwirtschaft wäre ein karrieremäßiger Quantensprung möglich, wenn er sich profilierte – und daran zweifelte natürlich keiner von beiden.
Die Monate vor seinem Einsatz waren die glücklichste Zeit, die Jonas je erlebt hatte. Nie zuvor hatte Lex ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt – und ihn so liebevoll angesehen. Sie hatten viele Abende damit verbracht, einander tief in die Augen zu schauen und Pläne für ihr künftiges Leben zu schmieden, in dem ihnen fast alle Türen offenstehen würden.
»Siehst du denn nicht, dass es gut für dich war, es zu tun?«
Das fragte sie ihn oft, als wären ihre gemeinsamen Pläne in ihren Augen bereits Wirklichkeit geworden. Denselben Augen, die ihn plötzlich beinahe hasserfüllt angesehen hatten, als er unehrenhaft aus der
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