Verleumdung
Phantasieprodukt?«
Es hatte eine Weile gedauert, bis die Überraschung über den Anblick des Toten verarbeitet und der Zauber gebrochen war.
»In der Tat ist die Methode etwas unsicher«, warf Nikolajsen hastig ein. »Die kraniofaziale Rekonstruktion ist eben keine exakte Wissenschaft.«
Der stellvertretende Institutsleiter blickte erst zu den drei Polizisten am Tisch, dann zu Linnea. Und wenn sie sich nicht völlig täuschte, war er plötzlich verunsichert, wem seine Loyalität zu gelten hatte.
»Es gibt viele Variablen, die man nicht mit Sicherheit bestimmen kann«, fuhr er fort. »Alle Weichteile, die Form der Ohren, all das ist natürlich reine Spekulation.«
Linnea sah ihn unverwandt an, als sie das Wort ergriff. Er hatte die Angewohnheit, seine Lesebrille an einer Schnur um den Hals baumeln zu lassen. Linnea hatte ihn sie noch nie tragen sehen, aber sie verlieh ihm ein altbackenes und etwas hilfloses Aussehen.
»Zum einen hat man in England und den USA mit dieser Methode recht gute Ergebnisse erzielt. Man spricht von einer Wiedererkennungsquote von siebzig bis achtzig Prozent. Das wäre wohl kaum der Fall, wenn die Methode nicht tatsächlich funktionierte. Zum anderen ist kaum etwas daran reine Spekulation, wie Sie es gerade ein wenig unglücklich formuliert haben. Meine Arbeit basiert auf einem amerikanischen Computerprogramm, das von führenden Wissenschaftlern auf diesem Gebiet entwickelt wurde. Es wird auch vom FBI, von Interpol und anderen Behörden auf der ganzen Welt verwendet. Jede einzelne Entscheidung im Arbeitsprozess orientiert sich an den Werten, die ich vom Skelett und vor allem vom Schädel genommen habe. Ein präziseres Porträt des Toten wird Ihnen niemand bieten können.«
»Und was ist mit der Frisur und solchen Dingen?«, wollte der Polizeihauptmeister mit zögerlicher Stimme wissen. »Oder einer Brille? Darüber kann man doch wohl nichts wissen?«
Linnea schenkte ihm ein kurzes Lächeln, dankbar dafür, dass er ihr genau die richtigen Stichwörter geliefert hatte. Sie klickte sich schnell durch die nächsten drei Bilder und zeigte dann alle vier in einem kleineren Format nebeneinander.
»Sie haben völlig recht. Das sind die Elemente, über die wir nichts wissen können und die sich eine Person tatsächlich auch am leichtesten zunutze machen kann, wenn sie ihr Aussehen ändern möchte. Aber das ist der große Vorteil daran, eine kraniofaziale Rekonstruktion am Computer vorzunehmen. Man kann ihn nach Lust und Laune verwandeln!«
Die vier Bilder zeigten nun unterschiedliche Variationen desselben Gesichts mit langem, kurzem und mittellangem Haar sowie dezentem Brillengestell. Auf dem letzten Bild trug er einen Vollbart. Dieser Version sah man an, dass Linnea am Ende übermüdet gewesen war und ihrer Phantasie etwas zu freien Lauf gelassen hatte, wie sie sich selbst eingestehen musste. Als Ergebnis war jedenfalls ein terroristenähnlicher Typus herausgekommen.
Anschließend klappte sie den Deckel des Laptops zu, zum Zeichen, dass die Vorführung beendet war. Die Männer erhoben sich. Tage Ewald kam auf sie zu.
»Wir sollten kurz besprechen, wie wir jetzt weiter vorgehen«, sagte er. »Aber ich gehe mal davon aus, dass wir eins der Bilder für die Untersuchung benutzen wollen. Heute Nachmittag findet eine Pressekonferenz statt, es wäre also gut, wenn wir die Bilder sofort bekommen könnten. Möchten Sie auch daran teilnehmen?«
Linnea schüttelte den Kopf.
»Dazu sehe ich eigentlich keinen Grund. Aber ich kann alle vier Bilder auf unseren FTP-Server hochladen, dann können Sie sie in der für Sie passenden Auflösung herunterladen.«
Der Polizeihauptmann dankte ihr und beeilte sich, hinter Bodilsen herzurennen, der den Raum bereits verlassen hatte. Linnea nickte kurz dem stellvertretenden Institutsleiter zu und bahnte sich resolut den Weg an ihm vorbei, obwohl er Anstalten machte, sie aufzuhalten. Mit großen Schritten eilte sie den Korridor entlang und bemerkte zu spät, dass sie gerade dabei war, Thor zu überholen. Er stand an der Seite und tat so, als studiere er einen Aushang am Schwarzen Brett. Jetzt sah er sie an, ohne auch nur im Geringsten durchblicken zu lassen, was er dachte.
»Was machst du überhaupt hier?«
Eigentlich hatte Linnea sich vorgenommen, nicht mit ihm zu reden.
»Ich gehöre zur Ermittlungsgruppe«, antwortete er. »Allerdings nur bis morgen, dann ist Rasmussen wieder da.«
Er blickte sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie schwören
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