Verleumdung
und all die Radler zu genießen, als sie ihren Weg in Richtung der Brücke fortsetzte. Plötzlich überkam sie der Drang, den sanften Sommerwind auf ihrer Haut zu spüren, und sie zog ihre Jacke aus. Sie dachte kurz an Mississippi und White Oaks, wo ihre Großmutter wahrscheinlich noch nicht mal aufgestanden war. Sie spürte einen lächerlichen Stich im Herzen, diesen Teil ihres Lebens nicht mit der Großmutter teilen zu können.
Yun Li Wu hatte nie gefragt, was Peggy-Lee eigentlich machte, wenn sie nicht da war. Nie hatte sie ein Wort über den plötzlichen Wohlstand verloren, der ihr zu einem Platz in dem exklusiven Pflegeheim verholfen hatte. Sie war zwar dement, aber in ihren wachen Momenten war sie sich sehr genau über die Vergangenheit ihrer Enkelin beim US Marine Corps im Klaren – und kannte auch ihre Faszination für Schusswaffen. Mit dreizehn hatte Peggy-Lee zum ersten Mal den Film Sniper gesehen. In einem Versuch, die Langeweile zu bekämpfen, die über ihrem öden Teenagerleben im Wohnwagenpark lag, hatte sie sich die Teilnahme an einem Videoabend erkauft, die ihr hirnloser großer Bruder mit seinen beiden ebenso hirnlosen Kumpels veranstaltet hatte. Der Preis hatte schon vorher festgestanden: den Jungen einen runterzuholen, was für ein paar Stunden Flucht aus der Wirklichkeit nicht zu viel verlangt war. Und diesmal bekam sie sogar eine Zukunftsaussicht mit dazu. Der Film erzählte von einem rauen US Marine-Scharfschützen. Als dann noch einer der Jungen erzählte, dass es den Mann tatsächlich gab, war Peggy-Lee hin und weg.
Waffen gehörten zum Alltag, und sie hatte schon oft schießen geübt. Auf Tiere und ein einziges Mal auch von einer Autobahnbrücke hinunter auf einen PKW. Sie hatte das Ansehen genossen, das ihr die Tatsache, dass sie besser treffen konnte als die Jungs, bei ihnen einbrachte. Aber dass sie daraus tatsächlich einen Beruf machen konnte – und obendrein einen, der sie aus dem elenden Nest befreite, in dem sie aufgewachsen war –, setzte eine ungeahnte Willenskraft in ihr frei. Die Autobiographie des besagten Scharfschützen war das erste Buch in ihrem Leben, das sie bis zu Ende las. In den Jahren, die vergingen, bis sie in der Sniper-Einheit der US Marines aufgenommen wurde, war ihr das zerlesene Taschenbuch fast zur Bibel geworden.
Als Peggy-Lee die Treppe an der Hafenfront erreicht hatte, schüttelte sie die Sentimentalität ab und prüfte mit ihrem Blick gründlich die Umgebung, bevor sie die Stufen hinunterging. Unter der Brücke war es kühl und dunkel, und sie bekam eine leichte Gänsehaut. Hier unten war es menschenleer, aber die ausgelassenen Stimmen der Leute und die Verkehrsgeräusche waren noch immer zu hören.
Unter der mittleren der drei Bänke fand Peggy-Lee wie vereinbart ihr Gewehr. Das PSG1 war in die gelb-schwarze Plastiktüte eines dänischen Supermarktes verpackt und zusätzlich mit Wellpappe umwickelt. Das gesamte Paket war an der Unterseite der Bank festgeklebt. Sie prüfte schnell das Klebeband, um sich zu vergewissern, dass sich niemand Fremdes daran zu schaffen gemacht hatte.
Als sie einige Minuten später mit einer Sporttasche über der Schulter wieder die Treppe hochstieg und auf die große Brücke zuging, sah sie nur wie einer der vielen Menschen auf dem Weg zum großen Hafenbad auf der anderen Seite der Einmündung aus.
*
Lex’ plötzliche Stimmungswechsel konnten Jonas noch immer verunsichern. In ihren ersten gemeinsamen Jahren, als er vor lauter Verliebtheit und Unsicherheit noch völlig desorientiert war, hatte Lex’ Launenhaftigkeit ihn mitunter verzweifeln lassen. Sie konnte innerhalb von wenigen Sekunden von extremer Zärtlichkeit und Hingabe auf ein ungeduldiges Blaffen umschwenken. Und Jonas verstand nur selten, was ihren plötzlichen Gefühlsumschwung ausgelöst hatte. Besonders nach dem Sex blieb er häufig mit dem Gefühl liegen, etwas falsch oder nicht gut genug gemacht zu haben. Lex dagegen war oft hemmungslos und extrem lüstern. Sie brachte ihm Dinge bei, von deren Existenz er nie etwas geahnt hätte, und sie tat es mit einer Sicherheit und Zielstrebigkeit, die ihn überraschte.
Jetzt stand sie vom Tisch auf und schob ihn so abrupt zur Seite, dass ein Saftglas zu Boden fiel und ein kleines gelbes Rinnsal sich langsam über den Fußboden in Richtung Kellertreppe schlängelte. Lex kickte das Glas mit ihrem Stilettoabsatz weg und zog Jonas von seinem Stuhl auf den Boden.
Das Glas lag nun neben dem Kühlschrank und rollte mit
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