Verleumdung
mit einer Frau verheiratet, mit der ich mal sehr eng befreundet war.«
Sie waren vor einem der Tische stehen geblieben. Thor prüfte den Identifikationszettel am großen Zeh der Leiche, um sicherzugehen, dass es die richtige war, ehe er Linnea das Laken entfernen ließ. Das Erste, was ihr auffiel, war die notdürftige Art und Weise, mit der man die Leiche wieder zusammengenäht hatte. Man hatte sie vom Hals bis zur Leiste aufgeschnitten und anschließend wieder geschlossen, mit groben Stichen, die nicht gerade schön aussahen. Einen Moment lang musste sie wegsehen, unangenehm berührt davon, dass sie ein Verhältnis zu dem Toten gehabt hatte, wenn auch nur indirekt.
»Er ist also heute Vormittag obduziert worden«, sagte sie.
»Ja, aber ich dachte, du würdest ihn vielleicht gerne selbst sehen, so neugierig, wie du klangst. Sie sind gerade fertig geworden.«
Linnea warf noch einen schnellen Blick auf die Leiche. Sie starrte in das Gesicht und stellte fest, dass sie Jonas Holm Neergaard zum ersten Mal in der Realität begegnete. Sie wollte gar nicht erst darüber nachdenken, welchen Eindruck der Mann ihrer Freundin auf sie gemacht hätte, wenn seine Augen lebendig gewesen wären anstatt gebrochen und matt wie jetzt. Objektiv betrachtet, hatte er vermutlich gut ausgesehen. Dann zwang sie sich, professionell zu sein, und beugte sich über den Leichnam. Trotz der Kälte verströmte er bereits einen schwachen Verwesungsgeruch. Unter normalen Bedingungen konnte es mehrere Tage dauern, bis der eigentliche Zerfall einsetzte, aber an einem Sommertag wie diesem war das natürlich anders. Dasselbe galt für die Totenstarre, die üblicherweise nach einem Tag am weitesten ausgeprägt war und zwei bis drei Tage anhielt. Wenn der Tote in einer körperlich guten Verfassung war, konnte sie etwas früher eintreten, was dem muskulösen Oberkörper nach zu urteilen bei diesem Toten bestimmt der Fall war. In manchen Fällen sogar schon nach einer halben Stunde, wenn der Verstorbene kurz vor seinem Tod körperlich stark aktiv gewesen war. Die abnehmende Todesstarre deutete in dem vorliegenden Fall darauf hin und gab Anlass zum Nachdenken.
»Ist deine Neugier damit gestillt?«
Sie nickte und bat Thor, ihr zu helfen, den Toten umzudrehen. Dabei rutschte ihm das eine Bein aus der Hand, so dass es über die Tischkante hinwegbaumelte. Linnea legte es kommentarlos wieder zurück auf den Tisch. Die Haut wies rötlich-violette Flecke auf, die bereits vollständig ausgebildet waren, was gut zu dem festgestellten Todeszeitpunkt passte, der eineinhalb Tage zurücklag. Nach zwölf Stunden waren die Totenflecke am deutlichsten, und ihr Fehlen an Rücken und der gesamten Rückseite der Leiche ließ darauf schließen, dass sie unmittelbar nach dem Tod viele Stunden an derselben Stelle auf dem Bauch gelegen hatte.
Linnea beeilte sich, die Leiche mit Thors Hilfe wieder umzudrehen und zu bedecken. Dann trat sie einen Schritt vom Tisch zurück.
»Vermutlich wurde er durch einen Kopfschuss getötet«, sagte sie. »Sieht so aus, als befände sich im Brustkorb ein weiteres Einschussloch.«
»Der Rechtsmediziner meint, der erste Schuss würde von einer Pistole stammen, der zweite von einem Gewehr.«
»Das ist ungewöhnlich.«
»Die Techniker haben uns versprochen, morgen so schnell wie möglich eine detailliertere ballistische Analyse zu liefern.«
Anschließend erklärte Thor, dass der Tote vollständig bekleidet gewesen sei, als man ihn gefunden habe. Er habe keinen Personalausweis bei sich getragen, weshalb sie erst die Datenbank der Abteilung für vermisste Personen bei der Reichspolizei konsultieren und von einem Rechtsodontologen eine Zahnkarte ausarbeiten lassen mussten, mit der sie ihn identifizieren konnten. Diese Vorgangsweise führte mitunter erst nach Wochen zu einem passenden Ergebnis, aber glücklicherweise hatte ein Kollege von der Spurensicherung das Handy des Opfers am Tatort gefunden. Und es hatte nicht lange gedauert, bis man den Namen des Vertragspartners ermittelt habe. Nur deshalb wussten sie bereits, wer der Tote war.
Thors Handy klingelte.
»Ein bisschen mysteriös ist der Fall trotzdem«, sagte er, während er in seinen Taschen nach seinem Handy suchte. »Allein die merkwürdige Lage, in der die Leiche gefunden wurde. Die Rechtsmediziner haben lange darüber gerätselt, ohne eine Erklärung zu finden. Seine Handgelenke sind gebrochen, wofür es kaum einen ersichtlichen Grund gibt. Noch dazu lag der Körper in einer Art
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